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Grimm im Leib

■ Von den Abgründen der Märchenwelt: Eine schaurig-schöne Kunstinstallation der Bremer Künstlerin Anne Schlöpke in der Galerie des Westens (GaDeWe)

„Das sogenannte Schöne interessiert mich nicht mehr“, sagt Anne Schlöpke. „Mein Thema sind die Momente, wo Unlust und Grauen unvermutet mit der Lust verwandt sind.“ Die Anspielung im Titel ihrer neuen Installation in der GaDeWe („Grimm – ein Tableau“) auf die Märchen der altbekannten Gebrüder läßt die harmlosen Schrecken von Rotkäppchen und den sieben Geißlein schnell hinter sich. Schlöpkes Kammer erinnert eher an die geheime Mädchenschlächterei in „Fundevogel“: „Ich rieche, ich rieche Menschenfleisch“...

Vielleicht gibt es BesucherInnen der GaDeWe, die Schlöpkes todernstem Kinderzimmer den Umschlag von Unlust in Lust nachvollziehen können. Eine verzweifelte kalte Lust, die ein ironischer Hohn wäre auf das ersehnte Märchenende: „Und dann war alles gut.“ Der erste harmlose Rundblick erfaßt vielleicht eine Puppe, den weißen Nachtschrank, ein Gitterbettchen und die rundherum liebevoll aufgehängten Bilder: ein Kinderzimmer, maßvoll aufgeräumt. Beim zweiten Blick aber verliert die Puppe ihr Gesicht, und aus ihrem Gipskörper ragen viele verrenkte kleine Arme und Beine. Dem Nachtschrank entquillt Gedärm aus Stoffschlingen. Im Bettchen wachsen drei gekrümmte Hörner. Und die Bilder an der Wand zeigen Alptraumfratzen mit zerlaufenen Mündern und schrecklichen Augen.

Das Tableau von Anne Schlöpke, die Freie Kunst, Malerei und Film an der HfK Bremen studierte, entpuppt sich als die gnadenlose Inszenierung eines Kinderzimmers als Folterkammer. Formlose Latexhäute hängen an einem Kleiderständer, aufgeschlitzte und wieder zusammengenähte kleine Brustkörbe aus Gips stehen sorgfältig plaziert auf dem Boden. In einen schwarzen Bilderrahmen gespannt ist ein geripptes Unterhemd übersät mit Zigarettenbrandlöchern. Ein Stuhl, der auf angewinkelten Beinen kniet, als erwarte er demütig eine Tracht Prügel, hält in seiner Polsterritze eingeklemmte Gipsfinger fest. Wer war das Opfer in diesem so penibel hergerichteten sadistischen Raum? Unwillkürlich sucht man in einem der medizinischen Abfallbeutel nach Resten einer Kinderleiche.

Und dann steht dort ein knallweißer Wandschirm, bedruckt mit schwarzen Mustern, die beim Näherkommen haargenaue Abbildungen von mörderischen Keuschheitsgürteln sind, mit Penisknebeln und spitzen Dornen für den After. Keuschheitsgürtel für Erwachsene. Anne Schlöpke hat sie selbst entworfen und stellt sie auch als einzelne Druckgraphiken aus. Nicht umsonst hieß Schlöpkes letzte Installation „Marnie“, nach der jungen Frau aus Hitchcocks Film, die als Kind einen brutalen Freier ihrer Mutter tötete und vergebens versucht, Demütigung und Rache zu vergessen. Cornelia Kurth

GaDeWe, Reuterstr. 9-17, bis 15.5.

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