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Die Welt als Gummizelle

Museumsarbeit auf allerhöchstem Niveau: Patrice Chereaus „Wozzeck“-Inszenierung an der Berliner Staatsoper  ■ Von Thierry Chervel

Das Publikum hatte sich noch gar nicht gesammelt. Unbemerkt war Barenboim ans Pult geschlüpft, damit kein Applaus die Aufmerksamkeit richtet. Der berühmte kleine Trommelwirbel, die Oboenmelodie gingen im Gemurmel unter. „Langsam Wozzeck! Langsam!“ rief mit durchdringendem Tenor der Hauptmann. Aber weder er noch der Angeredete waren zu sehen. Die Bühne war leer, kein Vorhang hatte sich geöffnet, sie hatte vorher schon so dagelegen. Erst dann kapierte man: Der Hauptmann steht auf einer Rampe, die links vom Zuschauerraum auf die Bühne führt, Wozzeck kommt erst am Ende seiner Tirade aus dem Bühnenhintergrund.

Chereau liebt solche Anfänge. Sein Film „L'homme blessé“ beginnt ähnlich, ohne Vorspann, mitten hinein in die Szene, das wirkliche Leben, die Kunst. Für den Zuschauer ist es wie ein Erwachen aus zerstreuter Traumtätigkeit, wenn man vergaß, den Wecker zu stellen, und sich unversehens ein paar Grundfragen konfrontiert sieht: Wo bin ich? Wer bin ich? Hat das alles einen Sinn?

Die vielleicht nur eingebildete Festigkeit, die man dann doch schnell wiedergewinnt, läßt Chereau in seiner Inszenierung allerdings nicht zu. Ihr Hauptcharakter ist Ruhelosigkeit. „Er sieht immer so verhetzt aus!“ moniert der Hauptmann an seinem Burschen Wozzeck und gestikuliert dabei wie eine in Raserei versetzte Groszsche Karikatur. „Herr Sargnagel! Sie schleifen ja ihre Beine auf dem Pflaster ab!“ ruft der Hauptmann später dem Doktor zu. Auch hier singt er wieder das Lob der Langsamkeit. Dabei rennen die beiden um den Block, nur ab und an erstarren sie zu grotesken Zerrbildern. „Pressiert, pressiert! Frau. In vier Wochen tot. Cancer uteri“, antwortet der Doktor (Günter von Kannen). „Gibt ein intressantes Präparat“, fügt er hinzu und läßt den Hauptmann in seine Tasche blicken, als wäre es da schon drin. Und weiter, immer um den Block rum.

Wozzeck (Franz Grundheber) selbst ist schwer zu fassen. Oft sieht man ihn nicht, wenn er angesprochen wird. Er taucht auf und stürzt grußlos davon. Er haut mit dem Besen auf die Erde. „Hohl! Alles hohl!“ Er beugt sich über den Orchestergraben und lauscht den unheimlichen Naturgeräuschen, die die Musiker da produzieren. Auch die Welt, durch die Wozzeck hetzt, ist von unzuverlässiger Festigkeit. Die Häuser – bunte Kuben, die wie übergroße Bauklötze aussehen – laufen auf unsichtbaren Schienen. Ständig konstellieren sie sich neu, bilden Gäßlein und fahren wieder auseinander, bedrängen und geben keinen Halt. Die Welt als Wozzecks Gummizelle (Bühnenbild: Richard Peduzzi). In die Bühnenrückwand ist eine Hausfassade eingelassen, die am Ende, nach Wozzecks Mord an Marie, herausgebrochen ist und den Blick auf den blutroten Nachthimmel freigibt. Wozzeck versinkt in einem riesigen, schwarzen, wogenden Tuch: dem See, dem Blut Maries.

Vor 69 Jahren wurde „Wozzeck“ an der Berliner Staatsoper unter Erich Kleiber uraufgeführt und löste Stürme der Begeisterung und der Empörung aus. Die deutschnationale Presse lieferte in Hetzkritiken einen Vorgeschmack auf Kommendes. Neun Jahre später dirigierte Kleiber noch Bergs „Lulu-Suite“. Die Reaktion der Nazis war unmißverständlich. Kleiber emigrierte. Heute wird der „Wozzeck“ an der Staatsoper einhellig bejubelt. Zu Recht. Chereaus Inszenierung ist brillant und doch unaufdringlich, nie um sich selbst bekümmert. Dabei arbeitet Chereau mit einfachen, manchmal fast groben Mitteln: rauschenden Vorhängen, Blackouts, Lichtwirkungen. Vor allem hat man selten eine Personenregie gesehen, die sich so präzise an die Musik

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schmiegt, selten haben Sänger ihren Text auch gestisch so genau pointiert. Grandios und gespenstisch, gewissermaßen durch Wozzecks verrückte Optik gesehen, ist die Ballszene im zweiten Akt. Für den Chor und die Statisten bemühte Chereau eigens einen Choreographen (Giuseppe Frigeni).

Und doch – es beschleicht mich die leise, wahrscheinlich total ungerechte Frage: Warum „Wozzeck“ jetzt? Chereau findet den Punkt nicht, an dem dieses Stück noch provoziert, vielleicht sucht er ihn gar nicht, womöglich zu Recht. Ungerecht ist die Frage, weil sie sich ebensogut an Beethovens fünfter Sinfonie stellen läßt. Warum wird die noch aufgeführt? Die kennen wir doch in- und auswendig! Bei einem Werk wie „Wozzeck“ präsentiert sich das Problem nur dringlicher. Es ist noch nicht lange genug „klassisch“. Zugleich ist es dezidiert modern und doch siebzig Jahre alt. So etwas läßt sich paradoxerweise nicht so leicht „aktualisieren“ wie eine Mozart- oder Verdi-Oper. Hinter der Frage nach der Aktualität des „Wozzeck“ verbirgt sich die nach dem Regietheater, das einmal antrat, die Institution zu verändern, und heute – in Chereaus Inszenierung auf allerhöchstem Niveau – Museumsarbeit leistet. Die ist notwendig, kein Zweifel.

Wenn es in der Inszenierung ein ästhetisches Vergnügen gibt, dann das, den Sängern zuzusehen: wie sie spielen, mit welcher Hingabe ans Spektakel, nie opernhaft. Vom Zuhören läßt sich nicht das gleiche sagen, zumindest nicht in der Premiere, die übrigens nur eine B-Premiere war – die eigentliche Premiere fand vor zwei Jahren am Pariser Chatelet statt, mit dem die Staatsoper hier kooperierte. Fast schien es, als laufe Barenboim hinter Chereau her wie der Hauptmann hinter dem Arzt. Es hörte sich immer so verhetzt an. Vor allem war das Orchester zu laut – das gilt jedenfalls für die vornehmen Parkettplätze, auf die die Kritiker gesetzt werden. Hinter der Wand, die das Orchester aufspannte, waren die Sänger manchmal kaum zu vernehmen, zumal sie nicht selten im Bühnenhintergrund agierten. Die Textverständlichkeit ließ zu wünschen übrig. Seltsam! Die Musik schmiegte sich nicht so eng an den Text wie die Inszenierung an die Musik. Wie gesagt: Es mag sein, daß es sich hier um ein akustisches Problem handelt.

Unter diesen Bedingungen läßt sich über die Sänger nicht sehr viel sagen. Doch: Waltraud Meier war mit ihrem weichstimmigen, alles überwölbenden Sopran eine ergreifende Marie, Graham Clark als Hauptmann sang und spielte mit seinem Charaktertenor zugleich grell und schön, unheimlich und komisch.

Weitere Aufführungen: 23. und 28. April, 19.30 und 20 Uhr, danach erst wieder im Oktober

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