: „Plötzlich war Heroin auf dem Markt“
■ Die Geschichte von Mathias und Andy und anderen, die nach der Räumung besetzter Häuser wie der Altonarer „Villa Kunterbunt“ begannen, sich mit harten Drogen zu betäuben Von Bernhard Pörksen
Gelegentlich sieht man ihn mit sinem Schäferhundmischling die Straßen im Hamburger Schanzenviertel langstaksen, sieht seine dürr gewordenen Beine in dunklen Jeans; die schwarzen Haare, die aus der Kapuze herausfransen und ihm ins Gesicht hängen, das auf eine so furchtbare Weise blaß ist. Manchmal, im Sommer, kann man ihm in Altona begegnen, direkt am Bahnhof vor dem „Café Tschibo“. Hier wird gedealt; zwanzig Mark für ein Tütchen weißes Pulver, garantiert gestreckt. Meistens jedoch trifft man Mathias, der sich seit 1990 fünf Mal am Tag Heroin spritzt und 22 Jahre alt ist, vor dem U-Bahnhof Sternschanze, direkt im ausgekachelten Gemäuer, sieht ihn schnorren für ein bißchen Drogengeld, das ihm die Passanten mit spitzen Fingern überreichen.
Manche, die an ihm und seinem streunenden Hund vorbeimüssen, halten ihre Handtaschen ein wenig fester oder sagen ihm, er solle doch arbeiten gehen, jedenfalls aus dem Viertel verschwinden. In diversen linksalternativen Szenekneipen hat er Hausverbot, in den meisten Geschäften in der Umgebung sowieso, allein schon wegen der vielen Diebstähle und nicht nur, weil er nach Dreck und Läusen aussieht.
Für manche Schikane, die ihm zuteil wird, kann er nichts, überhaupt nichts. Es kommt schon vor, daß ihn ehemalige Gesinnungsgenossen aus der autonomen Szene mit der Faust vertreiben: „Hier wird nicht für Gift geschnorrt“, sagen sie ihm, und dann setzt es Schläge. Oder es kann auch passieren, erzählt Mathias, daß ihn die Blaumänner, die in den Waggons Patrouille laufen, in das Gleishäuschen auf dem Bahnsteig zerren. Dann nehmen sie sich vorher die Dienstnummer ab, die kleine Messingplatte auf der Brust, die sie identifizierbar macht, ziehen sorgsam die Tür zu und hauen ihm ein paar in die Fresse. Einfach so.
Und wenn er besonderes Pech hat, nehmen sie auch sein Geld, schmeißen ihn wieder raus und wissen schon, daß einer, der so elend und kaputt aussieht, nicht mehr zur Polizei geht, weil sie ihn dort gleich dabehalten oder zumindest filzen. Und das wäre nicht ganz risikolos. Denn Spritzen und alte Filter, in denen noch Heroinreste sitzen, hat er eigentlich immer dabei. Die Einstiche entlang der Unterarmadern, die eiternden Beulen und Abzesse auf den Händen lassen sich auch nicht wegretuschieren. Also geht er nicht zur Wache, sondern wäscht sich auf irgendeinem Kneipenklo Rotz und Blut wieder ab und stellt sich nach so einem Überfall, der nach Mathias Bericht schon ein Dutzend mal vorgekommen ist, meist gleich wieder an den Ausgang der U-Bahn, nuschelt in endloser Wiederholung immer denselben Spruch, den ihm eh keiner abnimmt: „Paar Groschen für 'ne Tageskarte über?“
Zehn Mark die Stunde kriegt er, wenn es gut läuft. Das Silbergeld ist für Drogen; die Groschen sind für das Essen bestimmt. Alle zwanzig Mark gibt es eine kleine Pause, die er nutzt, um Heroin einzukaufen. Meist fährt er mit der S-Bahn eine Station. Bis zur Holstenstraße. Von dort aus geht es weiter über den Kirchenplatz, durch den Park hindurch und an einem Bauwagendorf vorbei, bis zu einem mit viel Mühe und Geld renovierten, aus dem zweiten Weltkrieg stammenden Bunker, in dem unter anderen etliche Punks und Obdachlose leben.
Vor drei Jahren hat man sie hierhergetrieben, etwa dreißig Hausbesetzer und nochmal soviel Hunde aus der „Villa Kunterbunt“, einem Haus in der nahen Sommerhuderstraße, das im Februar 1990 geräumt wurde, um es für andere zu renovieren. Zuvor sind viele der Punks und Besetzer aus der Keplerstraße verscheucht worden. Manche von ihnen hat man noch davor aus anderen besetzten Objekten der Stadt und den verschiedensten Bauwagen- und Zeltdörfern herausgeholt. Mathias allerdings ist erst in der „Villa Kunterbunt“ aufgetaucht und zur Szene gestoßen. Davor war er ein Bürger der DDR aus Bievertal in Magdeburg, der im Herbst'89 noch mit einem Reisevisum die Grenze passierte, um im goldenen Westen „Arbeit zu suchen und Kohle zu machen“, was ihm gründlich mißlang.
Nach einer kurzen Phase der Obdachlosigkeit kroch er im Hamburger Hausbesetzer-Milieu unter, bezog dürftige 430 Mark Sozialhilfe im Monat, fand einen neuen Sinn im Leben als Autonomer und marschierte fortan auf den zahlreichen Demos mit Haßkappe im schwarzen Block. Am Ende der Flucht vor dem Leben auf der Straße und von einem besetzten Haus ins nächste blieb ihm und den anderen, die sich in der „Villa“ an das Zusammensein gewöhnt hatten, nur der geordnete Rückzug in den Bunker, der in der Mistralstraße in Altona wie ein Fremdkörper und Mahnmal der Häßlichkeit herumsteht. „Der Bunker“, so sagt Mathias, zitternd vor Kälte am U-Bahnhof Holstenstraße stehend und auf dem Weg zum Drogenkauf, „war der Anfang vom Elend – ein echtes Rattenloch.“
Eine merkwürdige Stimmung sei es gewesen, die sie da erfaßt habe. Ein erdrückender Frust in einem sozialen Ghetto, versifft und heruntergekommen, von Alkoholikern und einem Verrückten bewohnt, der schon mal einen Punk mit dem Fleischhammer lebensgefährlich verletzte. Heute sieht es hier anders aus, besser. Heute ist der Verrückte fort, es gibt Sozialarbeiter, Geld für die Renovierung, Mietverträge für die Bewohner. Und doch war der Bunker in seiner grausigen Verkommenheit der ersten Jahre für Mathias und viele andre eine Art schwarzes Loch, ein Abgrund.
Das Ende der gemeinsamen Parties sei ihm ein Indiz gewesen, daß sich die Atmosphäre unter den Besetzern geändert hatte, sagt Mathias. Und Klaus, der auch seit 1990 ein Junkie ist, spricht von „schwarzen Gedanken“, die ihn gepackt hätten. Jeder sei auf einmal für sich gewesen; man habe sich auseinandergelebt. Michael, der sich ebenfalls seit diesem Zeitpunkt Heroin spritzt und die Odyssee der Besetzungen vom ersten Tag an miterlebt hat, sagt: „Die Leute, die im Bunker ankamen, hatten alles versucht, sie hatten Häuser besetzt und sich auf Demos geprügelt, sich eben auf ihre Weise engagiert. Logisch, daß dann viele verzweifelt waren“. Man habe sich mit immer härteren Drogen zugeballert, um der allgemeinen Tristesse zu entgehen.
Andy, ebenfalls abhängig, meint nur, daß Heroin eben eine „Verdrängungsdroge“ sei und daß „der Staat sie zum Verrecken“ hierherverfrachtet habe – im übrigen habe er keine Lust, mit einem Journalisten zu reden, der so kenntnislose und scheißbürgerliche Fragen stelle. Zum Abschied meint er gereizt: „Wenn Du Mist schreibst, gibt es Ärger. Man trifft sich immer mal in Hamburg“.
Und Thomas, der über zehn Jahre in den verschiedensten besetzten Häusern in Freiburg, Frankfurt und Hamburg gelebt hat und ebenso seit der Ankunft im Bunker auf Drogen ist, erzählt: „Das war schon äußerst merkwürdig, daß mit einem Mal soviele anfingen zu junken. Plötzlich war Heroin auf dem Markt. Das war wie eine Welle, die alle erfaßt hat.“ Zu Beginn, nach dem Einzug im Bunker im März 1990, hat man die Dealer, die im Haus auftauchten, noch verjagt. Ende des Jahres hatten von dreißig Autonomen, Punks und jugendlichen Obdachlosen, die sich lose der linken Szene der Stadt zugehörig fühlten, über 25 Heroin probiert. Nur ein paar wenige waren clean geblieben, waren fortgezogen oder hatten ihre Bude im Bunker regelrecht verrammelt. Bloß nicht mit Junkies zu tun haben! Morgens war Blut auf den Toiletten. Man fand die ersten Spritzen; immer öfter verrichteten einzelne ihr Geschäft in den Gängen des Hauses, da die meisten Toiletten schon nach kurzer Zeit unbenutzbar geworden waren. Der Bunker fing an zu stinken. Vor den Türen gammelte der Müll in Bergen.
Und die Gemeinschaft der Schnorrer, Besetzer und Protestjugendlichen begann zu zerbrechen. Es gab keine kollektiven Sauforgien mehr, höchstens zerschlug man nochmal in einem Anfall sinnloser Wut das Büro der Bunkerverwaltung oder vertrieb den Hausmeister, indem man ihm aus einem der vielen Fenster einen Eimer mit Urin auf das Haupt schüttete. Es gab keine bierseligen Fußballstunden in der Nordkurve des FC St. Pauli mehr. Niemand ging noch hin, als die Häuser in der Hafenstraße mal wieder von der Räumung bedroht waren oder bettelte einen Nachmittag lang für die kollektive „Volxküche“, die zumindest noch in der „Villa Kunterbunt“ eine feste Einrichtung gewesen war. Keiner freute sich mehr besonders über eine „Bonzenkarre“, die nachts im Viertel ausgebrannt war und sicher einem reichen Schleimer aus den Elbvororten gehörte, der natürlich nur hergekommen war, um sie alle wegzusanieren. Und erst recht niemand verfaßte noch Flugblätter, die von der „Yuppisierung“ und „Umstrukturierung des Stadtteils“ handelten.
Aus der Traum. Plötzlich waren neben den „RAF lebt!“-Parolen an den Wänden schon mal Hakenkreuze zu finden, die nichts weiter bedeuteten als den allmählichen Verlust einer sicher geglaubten politischen Moral und Identität, die zumindest weit links von der Mitte anzusiedeln war. Mit einem Mal fand und las man Parolen auf den Innenwänden des Bunkers, die sich in stummer Anklage gegen die Dealer richteten (“Dealer verpißt euch!“) oder vor Gelbsucht-Epidemien warnten, die immer wieder kursierten: „Die gelbe Pest holt euch alle.“ Und noch später hieß es dann in einer Sprache düsterer Resignation: „Jeder Junkie ist eine untergehende Sonne!“
Im Sommer vor knapp zwei Jahren schließlich wurde Caroline im Bunker gefunden, gestorben im Alter von 22 Jahren. Ob sie an einer Überdosis zugrundeging oder an einer vom Kopf ausgehenden Blutvergiftung, die die Ärzte der Umgebung nicht mehr behandeln wollten, wurde nie zweifelsfrei geklärt. Vor einem Jahr dann fand man Markus, der mit Caroline befreundet war, gestorben wahrscheinlich an unreinem Heroin. Einige Wochen danach schließlich hat sich Siegfried in den Tod gespritzt, ein schnauzbärtiger Punk aus der autonomen Szene in Belgien. Aus irgendeinem Grund war er für ein paar Tage im Gefängnis gewesen. Als man ihn freiließ, so wird erzählt, ging er in den Bunker und setzte sich eine Dosis, die er nicht überlebte. Sonst sei auch er immer nur zum Schnorren gewesen, sagt einer, der ihn gut kannte.
Schnorren, Drücken, Schnorren. Eine eisige, an die Droge gefesselte Monotonie des Existierens, ein ewig gleiches Lebensprogramm, das sich vor ein paar Supermärkten in Bunkernähe abspielte oder aber im Bettel-Zentrum der Junkies: dem U-Bahnhof Sternschanze. Auch Mathias sitzt an dem letzten Tag, an dem wir uns verabredet haben, wieder im Bahnhofsgemäuer, den Kopf auf die Arme gestützt und zwischen den Knien verborgen. Vor sich ein Prospekt, auf dem ein paar Pfennige liegen. „Matze“, brüllt ihm ein Junkie ins Ohr, „Acht Uhr! Aufstehen!“ „Laß mich“, sagt Mathias, schaut für einen Moment träge auf: „Ich bin müde“.
Ja, sagt er dann, vor ein paar Monaten habe er ernsthaft versucht, einen Entzug zu machen. Andy, Mathias und Heike, drei Junkies aus dem Bunker, die sich alle zu besseren Zeiten kennengelernt hatten, fuhren nach Eckernförde an die Ostsee, marschierten vom Zug aus direkt an eine Autobahnausfahrt im Grünen und schlugen ihr Zelt auf. Sie hätten gekotzt und gefroren und abends ein Lagerfeuer gemacht, sich zugesoffen, um ein bißchen abgelenkt zu sein von dem Frieren, den Schmerzen in den Gliedern und den Magenkrämpfen. Ein kalter Entzug: ohne veritable Ersatzdrogen, ohne ärztliche Hilfe, einfach nur der verrückte Plan von drei Abhängigen, endlich Schluß zu machen mit der Sucht, die ihnen das Leben diktierte.
Acht Tage lang ging das so. Dann sei die Polizei gekommen, die ihnen eine Frist setzte, um zu verschwinden. Am nächsten Morgen sollten sie weg sein. Irgendwie hatte keiner die Kraft, noch nach einer anderen Stelle zu suchen, an der sie ungestörter gewesen wären. Mathias packte das Zelt zusammen, gemeinsam fuhren sie mit dem nächstbesten Zug nach Hamburg. Zurück in die Szene und das Milieu des Bunkers. Nun stehen sie wieder an den Bahnhöfen herum. Ein Leben im Rhythmus der Sucht. Ein bloßes Vegetieren sei das, sagt Mathias, steht auf, nimmt das bißchen Kleingeld vom Prospekt, das sich angesammelt hat und stellt sich wieder an die Tür des U-Bahnhofs Sternschanze, die Kälte und den Schmerz von schlechtem Heroin in den Knochen. Mathias routiniert: „Paar Groschen über für 'ne Tageskarte?“ Denen, die ihm etwas geben, ruft er höflich hinterher: „Einen guten Abend noch.“
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