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Tomaten züchten am Feiertag

Blankgefegte Straßen und die Lizenz zum Besäufnis ließen den 1. Mai früher zum Ereignis werden. Diesmal droht der Tag wieder militanten Gruppen in die Hände zu fallen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Am 18. April diesen Jahres war in Moskau alles wie immer. Nur die Zeitungen meldeten, große Kontingente der Einheiten des Innenministeriums würden um die Stadt zusammengezogen. Sie sollen verhindern, daß am bevorstehenden 1. Mai Blut fließt, wenn die mächtige Demo denn wahr wird, die Viktor Ampilow schon angekündigt hat – Führer der Organisation „Arbeitendes Moskau –, zusammen mit anderen kürzlich amnestierten Inspiratoren der opferreichen Krawalle vom letzten Oktober.

„In erster Linie war es vor dem 1. Mai unsere Aufgabe, die Stadt zu säubern“, erinnert sich die sechzigjährige Milchfrau Tamara. „Wer es nicht schaffte, die Straße zu fegen, der polierte den eigenen Schreibtisch. Die Hauptsache war, von den Kollegen mit einem Besen oder einem Lappen in der Hand gesehen zu werden. Außerdem waren wir in diesen Tagen mit der Lebensmittelbeschaffung ausgelastet. In bestimmten Geschäften konnte sich fast jeder auf seinen Ausweis hin eine Sonderration an Delikatessen abholen.“

„Die enthielt immer das, was am betreffenden Ort gerade ,Defizit‘ war“, merkt kritisch die Fremdsprachenkorrespondentin Lara (40) an: „In Städten mit einem Überfluß an schwarzem Kaviar gab es da eben roten, und in Provinznestern, die seit Monaten keine Wurst mehr gesehen hatten, wurde die Marke ,Doktorskaja‘ ausgeteilt. Seit meiner Kindheit habe ich für den Maifeiertag immer ein neues Kleid bekommen“, erzählt Lara.

„So ausgestattet fieberten wir als junge Leute den bevorstehenden Ausschweifungen entgegen. Denn am 1. Mai hatten die Werktätigen sozusagen ein gesetzlich verbrieftes Recht, sich zu besaufen. Die Miliz war unter der Hand angewiesen, am proletarischen Feiertag und in der Nacht danach niemanden in die Ausnüchterungszellen zu stecken. Es wurde geduldet, daß die Leute in großen Gruppen ,Aufsehen erregten‘, Lieder sangen, laut schrien und auf der Straße tanzten. Am 1. Mai öffneten auch die großen Vergnügungsparks. Da gab's dann oft Tränen, weil wir uns auf den in aller Eile gestrichenen und geölten Schaukeln die neuen Sachen versauten.“

Am Morgen des Feiertags selbst wurde das Innere aller sowjetischen Städte in eine Riesenfußgängerzone verwandelt. An jeder Ecke spielte ein Militär-, Schul- oder Polizeiorchester. Die ganze Stadt blühte vor Girlanden und roten Fahnen, Parolen, Porträts der Führer und von Sprüchen, die diesen ewiges Leben zugestanden, auch wenn sie schon gestorben waren oder – wie Leonid Iljitsch Breschnew – halbtot auf dem Lenin-Mausoleum salutierten.

Wein, Wodka und Törtchen gab's bis zum Abwinken

Am meisten zur Hebung der Stimmung trugen wohl die fahrbahren Buffets bei, die an jeder Ecke Wein, Wodka, Törtchen und Piroggen im Ausschank anboten. Wenn so eine Demonstrantenkolonne ihre zehn Kilometer bis zum Roten Platz marschierte, hatte sie unterwegs reichlich Gelegenheit zu kulinarischen und feucht-fröhlichen Stopps. Da kamen die Leute an ihrem Ziel nicht nur zufrieden an, sondern auch heiter.

Daß das Demonstrieren zum Mai auf dem Roten Platz so seine Tücken hatte, merkte Lara 1974: „Da war gerade meine Tante aus Pensa zu Besuch und dachte, sie könnte an diesem Tag hier so an den Führern vorbeispazieren, wie bei sich zu Hause. Aber schon an den Sammelpunkten hatten wir Schwierigkeiten, weil keine Gruppe uns aufnehmen wollte. Schließlich ergatterte mein Freund eine blaue Girlande – an diesem Tag Wahrzeichen eines Großbetriebes, dessen einzelne Angestellte sich nicht alle kennen konnten. Mit denen marschierten wir dann los. Kurz vor dem Roten Platz, hinter dem historischen Museum, gerieten wir in unheimliche, enge, aus KGBlern gebildete Menschenkorridore. Dort fing man jeden ab, der zu betrunken oder sonst irgendwie auffällig war. Auch auf dem Platz selbst existierten solche Korridore. Dort aber wendete sich unser Glück. Wir kamen um Haaresbreite am Mausoleum vorbei und waren hinterher alle drei mit Leonid Iljitsch zusammen in der Wochenschau zu sehen.“

Amüsiert haben wir uns schon, resümiert Lara: der legitime Alkoholkonsum, die Musik, das Sichtreibenlassen auf den Straßen. Dann nach Hause kommen und sich an den festlich gedeckten Tisch setzen. Danach wieder raus in den Park, oder endlich mal dem Nachbarn in aller Öffentlichkeit die Schnauze vollhauen. Nachts endete alles mit einem großen Feuerwerk.

Schon Ende der 70er Jahre begannen die Leute, die beiden Maifeiertage pragmatischer zu nutzen: um auf ihren Datschen Kartoffeln und die in der Küche vorgezogenen Tomaten- und Bohnenpflänzchen zu setzen. Dieser Trend setzte sich endgültig Ende der 80er Jahre durch, als die Geschäfte leer waren und dem Land der Hunger drohte. Heute hält er weiter an. Zumal wenn, wie im vorigen Jahr, der Rote Platz nicht mehr Stätte großer Feiern sein kann, sondern stundenlang abgesperrt wird, um Ausschreitungen rot-brauner Rentner und Schlägertrupps gegen das stückweise an kapitalistische Weltkonzerne verpachtete Warenhaus GUM zu verhindern. „Nichts gibt's mehr, was das Herz erwärmt“, klagt die Milchfrau Tamara. Lara sieht das gelassener: „Die Natur des modernen Menschen“, doziert sie, „verträgt es nicht, das ganze Leben lang auf einunddieselbe Weise zu feiern.“

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