: Jeder versteht die Sprache der Morde
Der tägliche Terror von Haiti: Die herrschenden Militärs sitzen trotz des internationalen Embargos fest im Sattel / Daß unbekannte Leichen am Straßenrand liegen, ist normal ■ Aus Port-au-Prince Hans Christoph Buch
Seit einem Tag liegt an der Ausfallstraße zum Flughafen die Leiche eines jungen Mannes, der im Lauf der Nacht durch Kopfschuß getötet und aus einem fahrenden Auto geworfen wurde. Zeit und Ort deuten darauf hin, daß es sich nicht, wie von den Militärmachthabern stets behauptet wird, um eine Abrechnung unter Kriminellen, sondern um einen politisch motivierten Mord handelt. An der Straße zum Flughafen werden immer wieder unbekannte Tote gefunden, meist Jugendliche aus dem benachbarten Elendsviertel Cité Soleil, das als Hochburg des vor zweieinhalb Jahren von den Militärs verjagten Präsidenten Jean- Bertrand Aristide galt.
Die Morde sind Mitteilungen in einer chiffrierten Sprache, deren Botschaft hier jeder versteht. Die haitianische Presse berichtet kaum noch über sie, und die Anwohner trauen sich nicht, die Toten zu beerdigen, weil sie dabei selbst ihr Leben riskieren; nur ein paar ausländische Journalisten finden sich bei den grausam verstümmelten Leichen ein.
Hinter den Morden steht die neoduvalieristische FRAPH (Front pour l'avancement et le progrès du peuple haitien), eine Killertruppe nach dem Vorbild von Papa Docs Tonton Macoutes, auch Attachés oder Zenglendos genannt. Nacht für Nacht schwärmen sie aus, um die Bewohner der Armenviertel das Fürchten zu lehren und Jagd zu machen auf Anhänger des gestürzten Präsidenten. Vor wenigen Tagen versammelten sich die Mitglieder der FRAPH am Hafen von Port-au-Prince, von wo ein randalierender Mob im Oktober vorigen Jahres mit Steinwürfen ein US-amerikanisches Kriegsschiff vertrieb: Straßenkinder und arbeitslose Jugendliche, die für ein Handgeld bereit sind, jeden gewünschten Slogan zu brüllen, Voodoopriesterinnen und Marktfrauen mit roten Kopftüchern und weißen T-Shirts, stadtbekannte Tonton Macoutes und schwerbewaffnete Atachés, allen voran Grosgros Fanfan, der den Aristide nahestehenden Geschäftsmann Antoine Isméry sonntags beim Kirchgang vor aller Augen erschoß und von der zum Schutz der Demonstranten aufgebotenen Polizei freundschaftlich begrüßt wurde. Die FRAPH-Leute zogen trommelnd und tanzend von der US- Botschaft, vor der sie ein kurzes Sit-in veranstalteten, zum Parlamentsgebäude, das sie stundenlang belagerten, um ihrer Forderung nach Aufhebung des Embargos gegen Haitis Militärjunta und Neuwahlen den nötigen Nachdruck zu verleihen.
Obwohl es sich nur um eine Hundertschaft bezahlter Randalierer handelte, berichtete die Presse ausführlich. Noch erschreckender als die Komplizenschaft von Armee und Polizei, die die FRAPH ungestraft morden, foltern und vergewaltigen läßt, ist das Geschick, mit dem die Hitlers SA nachempfundene Schlägertruppe die Medien und die öffentliche Meinung manipuliert. Nachmittags gab Emmanuel „Toto“ Constant, der Chefideologe der FRAPH, in seiner Villa in Delmas, einem der besseren Viertel von Port-au-Prince, eine Pressekonferenz. Das Haus glich einem vor Waffen starrenden Heerlager. Während des Interviews spielte der Vorsitzende der FRAPH mit einem Revolver herum und unterhielt sich per Telefon mit seiner Mätresse und per Walkie-talkie mit seinem Leibwächter, der die wartenden Journalisten durchsuchte. Er bezeichnete Aristide als Menschenrechtsverletzer, der seine Gegner lebendig verbrennen und das Volk Haitis unter dem Embargo verhungern lasse. Die FRAPH habe nicht nur stärkere Muskeln, sondern auch mehr Gehirn als Aristides „Lavalas“-Bewegung (kreolisch für Erdrutsch oder Sturzflut), behauptete der in Kanada aufgewachsene Populist, in dem seine fanatisierten Gefolgsleute bereits den künftigen Präsidenten Haitis sehen, während Aristides Wiederkehr in immer weitere Ferne rückt.
Die FRAPH, die trotz des Embargos über modernste Technik, Fahrzeuge und Faxgeräte verfügt, fühlt sich inzwischen so stark, daß sie die von dem argentinischen Vermittler Despruy vorgeschlagene Amnestie für die Urheber des Militärputsches, der Aristide im Prinzip zugestimmt hat, als unzureichend ablehnt. Aber seit der Polizeichef von Port-au-Prince und Drahtzieher des Terrors der Todesschwadronen, Michel François, in Miami beim Prozeß gegen den ehemaligen panamaischen Miitärdiktator Manuel Noriega als Drogenbaron enttarnt wurde, treibt die Krise auf Haiti einem neuen Höhepunkt zu. Unter dem Druck demokratischer Senatoren will nun US-Präsident Bill Clinton eine Verschärfung des Embargos gegen die Militärs.
Aber für den Toten an der Ausfallstraße zum Flughafen kommt diese Einsicht zu spät: sein Leichnam war heute früh, 24 Studen nach seiner Ermordung, von Hunden und Schweinen angefressen und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Nur die in Turnschuhen steckenden Füße deuteten noch auf ein menschliches Wesen hin.
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