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Der Mond ist nur ein Stück faules Holz

■ Die Staatsoper zeigt in der Parochialkirche „Wozzeck-Reflexe“ – drei Choreographien zum Büchner-Thema der geschundenen Kreatur

Nach anhaltender Kritik an den konservativen Ballettaufführungen ihres Hauses hat die Lindenoper einen Schritt in die Neuzeit gewagt. Ergänzend zu Chéreaus Inszenierung der Bergschen „Wozzeck“-Oper wurden drei Choreographen zu „Wozzeck- Reflexen“ eingeladen: Helge Musial, der in Berlin durch seine Arbeit an der avantgardistischen Tanzfabrik bekannt ist, der künstlerische Leiter des finnischen Nationalballetts, Jorma Uotinen, und Maryse Delente, die in Frankreich mit einem reinen Frauenensemble arbeitet.

Jorma Uotinen hat mit „Marie er und ich“ ein kleines Meisterwerk auf die Bühne der Parochialkirche gebracht; gemeinsam mit Mathias Pintscher, der im Auftrag der Staatsoper eine rabenschwarze Musik dazu schrieb. Marie, das ist bei Uotinen keine darbende und von Schuldgefühlen gequälte Frau, sondern eine Femme fatal im blutroten, schulterlosen Abendkleid – eine Projektion des Woyzeckschen „Ich“. Auch der vornehme „Er“ ist eine Kopfgeburt dieses Ichs, das in einer wüsten, zerfallenden Welt ums Überleben kämpft. Hier gibt es weder Vater noch Mutter, der Mond ist ein Stück faules Holz und die Sonne eine verwelkte Blume, hier „war Alles tot und Niemand mehr auf der Welt“.

Pintscher macht die in Büchners „Woyzeck“ von der Großmutter erzählte Mär zum Leitfaden seiner Musik. Rezitiert wird sie von Michael Donard. Komposition und Choreographie sind von der gleichen Vision getrieben: Mit einem vierundzwanzigköpfigen Corps de ballets gelingt es Uotinen, auf relativ kleiner Bühne eine allumfassende Leere zu beschwören. Durch die torkelt das Woyzeck-Ich in Gestalt von Mario Perricone, dem unbestrittenen Star des Abends (der auch bei Maryse Delente die Hauptfigur tanzt). Er stürzt auf einen zuvor mit der Axt bearbeiteten Holzblock wie in einen Abgrund, versucht im Kopfstand die Welt anders zu sehen, dreht und windet sich durch die Tänzer und kommt doch an kein Ziel. Getrieben von seiner „viehischen Vernünftigkeit“ bleibt er im Gewimmel der einzige, absolut einsame Mensch.

Marie, Marie, Marie, schreit es aus dem stummen Werk von Maryse Delente. Und das ist nicht nur Woyzecks Schrei, sondern auch der Schrei der ermordeten Frauen. In blutroten Gewändern sitzen sie hinter Woyzeck, eiskalt-schöne Erinnyen, die nie wieder Ruhe geben werden. Maryse Delente nimmt in „Maries Zimmer“ (zu einer unglaublich heiteren Klaviersonate des 17jährigen Wagner) die Perspektive der getöteten Opfer ein. Ihr Woyzeck will sich das Blut von den Händen wischen, wieder und wieder. Er schleppt die Frauen zu einem Leichenhaufen zusammen – um sich an ihren kalten Körpern zu wärmen und der einen auszuweichen: Marie (getanzt von Bettina Thiel) streift sich das rote Kleid ab und sucht erneut Woyzecks Liebe. Doch Männer können nicht lieben, höchstens morden. Am Schluß bricht Maryse Delentes Veranstaltung unter der Bürde des Pathos zusammen und verkehrt sich in unfreiwillige Parodie.

Helge Musial schließlich, der zum ersten Mal mit einem so hochkarätigen Ensemble arbeitet, zeigt ein beachtliches Erstlingswerk. Alban Bergs „Lyrische Suite“ hat ihn zu „Sechs Tänzen“ angeregt, in der keiner bekommt, was er will: Das Begehren treibt unaufhörlich voran, doch es erfüllt sich nie. Das eigene moderne Tanzvokabular hat Musial leider weitgehend zu Hause gelassen. Im ersten Drittel läßt er die Tänzer alle Register der Tanzkunst ziehen und erfindet einen Ablauf nach dem anderen. Doch aus dem Überbordenden wird schnell ein Zuviel, und spannend wird es erst, nachdem die Erfindungslust etwas zur Ruhe gekommen ist. Im schlichten Pas de deux findet Musial zu einer Kraft, die tatsächlich Risse in die heile Liebeswelt reißt. Am eindrücklichsten zeigt das auch hier die Woyzeck-Figur, getanzt von Dietmar Jacob. Michaela Schlagenwerth

Noch heute, 19.30 Uhr, Parochialkirche, Klosterstraße 67, Mitte.

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