: Energisch zuwarten
Wie wecke ich meinen linken Fuß? „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“ – ein Film von Lasse Hallström mit Johnny Depp, Juliette Lewis und nur ganz geringfügigem Erlösungseffekt ■ Von Andreas Becker
Was macht man in einer amerikanischen Kleinstadt, die aussieht wie eines dieser staubigen Saloondörfer , in denen immer Autos liegenbleiben? Genau, australisches Bier trinken und energisch zuwarten!
Johnny Depp alias Gilbert Grape ist einer, dem die Warterei schon in jungen Jahren tiefe Sorgenfalten ins recht hübsche Gesicht geschnitzt hat. Extra für Gilbert Grape hat sich Depp antrainiert, seine Schultern elegant schlaff nach vorn hängen zu lassen. Er glaubt nicht mehr so recht an Autopannen, die irgendwelche hilflosen Geschöpfe nach Endora spülen könnten, Endora „irgendwo in Iowa“. Gilbert verbringt die Warterei mit der Fütterung seiner rund fünfhundertpfündigen Mutter. Günstigerweise arbeitet er in dem kleinen Lebensmittelladen von Mister Lamson, bei dem seit Eröffnung des „Super Food Land“ gähnende Leere herrscht.
Die restliche Zeit vergeht mit der Betreuung seines schwachsinnigen Bruders Arnie. Zeit für sich – gar ein sogenanntes Sexleben – scheint Gilbert Nightingale nicht zu haben. Alle paar Tage fragen sie ihn in Lamson's Grocery, um nicht auch noch die zweitbeste Kundin zu verlieren: Gilbert, kannst du ein paar Sachen zu Mrs. Carver bringen? Betty Carver ist die manische, irgendwie immer ein bißchen überreife Hausfrau, die es liebt, sich neben dem Gemüse auf dem Küchentisch kunstvoll den Nachmittag versüßen zu lassen. Am schärfsten findet sie es, wenn ihr Mann dann auch noch wie zufällig zum Rasensprengen vorbeikommt.
Abwechslung muß her, das merkt irgendwann sogar Gilbert. Die Schlüsselfigur dazu ist wiederum Arnie. Der kleine Hofnarr, der Gilbert und das ganze verschlafene Endora durch Kletteraktionen auf dem Wasserturm in Atem hält, darf als „geistig Behinderter“ sagen, was die anderen angestrengt verdrängen. Als Gilbert heimlich die Balken des Hauses verstärken läßt, damit die Mutter nicht durch den Boden kracht, fragt Arnie den Tischler: „Warum traust du dich nicht in den Keller? Weil Vater sich dort erhängt hat!“
Die Sache ist ein bißchen komplizierter als im traditionellen Behinderten-Kino, wie die Rain Men und Awakenings unseren letzten Kontakt zur vorsprachlichen Unschuld der Menschheit bilden. Immer waren sie ein bißchen ein klein Jesulein, die den Normalo in uns zum Schweigen und den linken Fuß zum Sprechen bringen konnten. Mini-Rainman Arnie wirkt überzeugender als Dustin Hoffman, denn Arnie zickt und nervt ganz unergründlich, ohne jedes Trauma und ohne jeden Erlösungseffekt. Regisseur Lasse Hallström („Mein Leben als Hund“) ließ DiCaprio freie Hand, den Crazy in sich selbst zu entdecken.
Indirekt hilft Arnie allerdings auch Gilbert auf die Sprünge. Jeden Sommer sitzen beide stundenlang im Schatten eines Straßenbaums und warten. Bis Arnie gaaanz weit weg am Horizont zwei blitzende Lichter ausmacht. Arnie springt in die Luft, rennt der Karawane entgegen. Sie kommen, die Leute mit den Riesencombis und den chromblitzenden Riesenwohnwagen (ein solches Gefährt ließ der Verleih zur Premiere des Films bei der Berlinale extra vors Kino schleppen). Normalerweise ist Endora es ihnen nicht einmal wert, kurz anzuhalten, um mal ins Gebüsch statt ins Chemoklo zu pinkeln. Diesmal aber gibt es eine Panne. Endora wird plötzlich auch für Becky vom Transitland zum Triebstauraum.
Daß Becky die Richtige für Gilbert wäre, und umgekehrt, ist schon rein anatomisch eine ausgemachte Sache. Nicht nur im Vergleich zu Gilberts First Lady „Momma“ ist sie absolute Spitzenklasse, weil magersüchtig. Um diese Frau mit dem Nötigsten zu versorgen, bräuchte man nicht dauernd mit dem Pick-up zwischen Lamson's und daheim hin- und herkurven. Johnny Depp aber wird seinem Namen voll gerecht und läßt Becky zunächst einmal mit ihrem kaputten Keilriemen allein.
Einer Frau aber soll man langfristig keinen Wunsch abschlagen. Das weiß auch Gilbert. Es dauert zwar verdammt lange, aber als er den Wagen endlich repariert, macht er es richtig: Danach ist die Karre völlig hin.
Dann ist es wieder Arnie, der, gerade weil er als Behinderter eh kein eigenes sogenanntes Sexualleben haben darf, die Dinge (sprich: seinen Körper) endlich in (den) Fluß bringt. Er kann es sich leisten, „einfach so“ zu Becky ins Wasser zu springen. Währenddessen steht der eigentliche Adressat, olle Depp, hinterm Baum und traut sich lange nicht hervor. Um zu dritt nackt zu baden – was irgendwie naheliegend wäre – müßten aber wohl alle drei als verrückt durchgehen. Wer gern den Filmsemiotiker raushängen läßt, der sollte auf die Aufschrift auf dem Flipper achten, nachdem die Mutter mit brennender Kippe vor der Glotze einschläft.
„Gilbert Grape“. Regie: Lasse Hallström. Mit Johnny Depp, Juliette Lewis u.a. USA, 1993, 117 Min.
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