: Proporzirrsinn
■ 30 Bands spielen im Tempodrom
Die Berliner Musikszene ist ein empfindliches Pflänzchen. Als Anfang des Jahres 30 Bands für den diesjährigen Tanz in den Mai des Berliner Band Syndikats ausgewählt werden sollten, ging es für einige entschieden zu brutal zu. Organisator Christopher Gehrke (Sidewalk Poets) hatte eine Jury ins BKA-Zelt bestellt, die wie in finstersten Senatsrock-Zeiten beauftragt war, zwischen guter und böser Musik zu entscheiden.
Was früher geheim war, wurde zur öffentlich inszenierten Satire-Show: Bestechung der Juroren mit Schokolade, Sex und allem, was man gerade so in der Tasche hat. Auch das Publikum durfte qua Applausometer demokratisch mitwählen. Wessen Demotape nicht überzeugen konnte, wurde wie bei der Gong-Show gnadenlos ausgebuht. Sodann trat ein schwarz maskierter Henker auf und legte Platten, CDs und Kassetten unters Fallbeil.
Fast alle hatten ihren Spaß, bis auf die, die keinen Spaß verstehen. Schnellschußartig schoß ihnen der Vergleich mit den Bücherverbrennungen der Nazis ins Hirn. In Zeiten, wo Leute Buttersäure auf Leinwände schleudern, weil ihnen Bilder Unbehagen bereiten, ist nichts unmöglich.
Trotzdem können wir am Samstag zur Saisoneröffnung des Tempodroms 30 Bands in sechs Stunden erleben. Größenwahn war in Berlin schon immer gefragt. Diesmal resultiert er aus der vermeintlichen Not, möglichst viele „Talente“ einem möglichst breiten Publikum vorstellen zu wollen. Viele Bands möchten endlich mal woanders als in ihrem Übungskeller auftreten. Bei Bands United müßen sie dazu allerdings echte Senkrechtstarter sein. Maximal 15 Minuten dauert ein Auftritt. Da hat manch einer kaum seine Gitarre gestimmt, schon heißt es: runter von der Bühne.
Dann geht der Irrsinn aber erst richtig los. Als hätte man jede Fraktion proporzmäßig berücksichtigen wollen, ist von allem, aber wirklich allem, was dabei: Chanson, Heavy Metal, Flachpop, Ostrock, HipHop – alles was man irgendwie auf Tonträgern speichern kann. Die Reihenfolge ist da schon fast zweitrangig. Der Anreiz für Nichtmasochisten, sich diesem Wirrwarr auszusetzen, kann nur in der Liebe zum Wirrwarr selbst liegen. Und die ist bekanntlich groß und allmächtig wie Allah.
Hören wir also Annette Berr, die gute Hildegard Knef der Neunziger, dann sofort dick aufgetragenen Metal von Chor Chorea. Dann Seichtpop von Peacock Palace, dann den High-Life von Makwerhu aus Südafrika, dann meinetwegen — aber das paßt schon fast zu gut hintereinander — D. Didgeridude Orlanski. Dann die Fuck You Crew, D-Base-5, schockartig den Mädchen-Singsang der Voices Of Neucölln, danach Die Zöllner. Die Reihenfolge bestimmt das Los oder die Schlange hinter der Bühne. Den ganzen Irrsinn will fnac dann auch noch als Platte mitschneiden. Ich find' das klasse. Andreas Becker
Bands United: Tanz in den Mai. Einlaß 18 Uhr, Beginn 19 Uhr, Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten.
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