: Japans gemütliche Arbeitswelt
Vollbeschäftigung: Wie es dem japanischen Staat auf Kosten wirtschaftlicher Produktivität gelingt, die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten ■ Aus Tokio Georg Blume
Das Thema taucht für gewöhnlich nur in Romanen oder Auslandsberichten auf. Wer ist in Japan schon arbeitslos? Nicht einmal die japanischen Gewerkschaften kennen diese größte Sorge der westlichen Gesellschaften. In Japans Betrieben diskutiert man den Erschöpfungstod. Der ereilte viele Angestellte, die mit Arbeit überlastet wurden, weil es ihrer Firma an Arbeitskräften fehlte.
Man sorgt sich über den ausbleibenden Nachwuchs, der eigentlich die Renten der Zukunft erwirtschaften soll. Man will die Arbeitszeiten reduzieren, um endlich mehr Zeit für die Familie zu haben. Aber in der öffentlichen Debatte kommt niemand auf den Gedanken, daß Arbeitszeitverkürzung irgend etwas mit geringerer Arbeitslosigkeit zu tun haben könnte.
Natürlich hat der Arbeitsstaat Japan zwei Seiten: Frauen werden oft nach der Heirat mit höflichen Worten entlassen, weil das in manchen Kreisen noch immer gesellschaftlich erwartet wird und für die Firma billig ist. Doch sind die betroffenen Frauen, die mehr oder weniger freiwillig aus dem Beruf scheiden, danach Opfer von Arbeitslosigkeit? Die Gesellschaft schreibt sie zumindest nicht als solche ab.
Dafür geraten Männer ohne Arbeit oft schon nach wenigen Wochen in eine tiefe Identitätskrise. Auf über drei Prozent wird die offizielle Arbeitslosenquote in Japan nach Berechnung der meisten privaten Wirtschaftsinstitute noch in diesem Jahr steigen, und damit voraussichtlich den höchsten Stand der Nachkriegszeit erreichen. Immerhin steckt Japan inmitten der tiefsten Rezession seit 40 Jahren, die zweifellos auch ihre Opfer fordert.
„Obwohl ich nichts Falsches getan habe, fühle ich mich wie eine Kriminelle“, klagt die 46jährige Kimiko Kanda, der die Firma nach dreißig Jahren Montagearbeit fristlos kündigte, nachdem eine Fabrik geschlossen wurde. Eine besondere Scham erfüllt diejenigen, die ihre Arbeit in einem Land verlieren, das an Arbeitslosigkeit nicht gewöhnt ist. Doch im Vergleich zu allen anderen großen Industrieländern bleibt das Schicksal von Kimiko Kanda in Japan eine Ausnahme. Arbeitslosigkeit ist in Japan nach wie vor kein Alltagsphänomen. Die Angst, keine Arbeit zu finden, ist unter Jugendlichen praktisch nicht vorhanden, und Jugendarbeitslosigkeit ist unbekannt. Viele Studenten stöhnen bereits, wenn sie mehrere Wochen mit dem Ausfüllen von Bewerbungen verbringen müssen, ihnen nach Abschluß des Studiums ein Arbeitsplatz nicht automatisch zufällt.
Statt von Arbeitslosigkeit sprechen Politiker und Unternehmer nach wie vor von Arbeitsknappheit. Auf die Zukunft bezogen, geben ihnen die demographischen Daten recht. Tatsächlich erreichte die Zahl der 18jährigen mit 2 Millionen schon 1990 ihren Höhepunkt. Im Jahr 2005 werden nur noch 1,37 Millionen Japaner 18 Jahre alt sein. Da bereits heute zwei Drittel aller Roboter auf der Welt in japanischen Fabriken arbeiten, stößt in Japan die Automatisierung von Arbeitsplätzen eher als in anderen Industrieländern auf Grenzen. Auch die Reservearmee der Frauen läßt sich im Falle von Arbeitskräftemangel nicht mehr unbegrenzt mobilisieren: Der Anteil von Frauen an der arbeitenden Bevölkerung ist mit 40 Prozent ungefähr so hoch wie in Westdeutschland.
Die Erklärung für die geringe Arbeitslosigkeit liegt freilich nicht dort, wo man sie am ehesten vermutet: Japans Exporterfolge und der außerordentlich hohe Handelsüberschuß des Landes werden nur von einem geringen Teil der Arbeitskräfte in den großen Konzernen und ihren Untergliederungen erwirtschaftet. Nur zwanzig Prozent der japanischen Arbeitsplätze, so lauten die Schätzungen von McKinsey in Japan, sind im internationalen Maßstab konkurrenzfähig. Die große Mehrheit von achtzig Prozent aller Arbeitsplätze aber wird durch den japanischen Staat geschützt – freilich nicht mit sozialstaatlichen Mitteln (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulung und so weiter), sondern mit industriepolitischen Mitteln. So läßt sich auf jeder größeren Baustelle des Landes beobachten, wie die bürokratischen Vorschriften des Zentralstaats Arbeitsplätze sichern: Mindestens drei Arbeiter sind am Bauplatz lediglich für die Regelung des vorbeifließenden Verkehrs zuständig – auch wenn gar keine Verkehrsprobleme entstehen. Ähnliche staatliche Vorschriften für den Einsatz von Arbeitskräften, die nach japanischem Beamtengesetz in aller Regel nirgendwo geschrieben stehen, gibt es in allen Industriezweigen.
Nun würde sich niemand an der relativen Idylle auf dem japanischen Arbeitsmarkt stoßen, wenn mit der staatlichen Sicherung billiger Arbeitsplätze nicht auch die Abschottung des japanischen Markts gegenüber ausländischen Firmen verbunden wäre. Ein besonders geeignetes Beispiel, das immer wieder im Handelsstreit zwischen Japan und dem Westen auftaucht, ist das komplizierte japanische Vertriebssystem, welches die Eröffnung von Supermärkten zugunsten kleinerer Läden erschwert.
Ausländische Ware kann deshalb oft nur über viele Zwischenhändler auf den Warentisch gelangen. Der lange Vertriebsweg aber macht die Produkte überflüssig teuer, wenngleich er dabei Millionen Arbeitsplätze im Zwischenhandel sichert.
Hieran wird auch die Bedeutung der großen Deregulierungsdebatte erkenntlich, die sowohl die neue Reformregierung in Tokio als auch der Westen dem Durchschnittsjapaner aufzwingen. Deregulierung heißt nämlich in erster Linie, den japanischen Warenfluß den Idealen des Freihandels anzupassen. Wer diese Forderung beim Wort nimmt, muß nun zunächst alle bürokratischen Vorschriften abschaffen und kann daraufhin sämtliche überflüssigen Arbeitskräfte entlassen. Die Folge wäre ein Japan, in dem die Arbeitslosigkeit nach Meinung vieler Experten noch sehr viel höher als im Westen wäre.
Denn tatsächlich liegt die Produktivität japanischer Arbeiter in der Regel unter dem westlichem Niveau. Gerade der am meisten geschützte Dienstleistungsbereich, in dem 60 Prozent aller Berufstätigen Beschäftigung finden, würde ohne staatliches Reglement sowohl dem internen Rationalisierungsdruck als auch der ausländischen Konkurrenz nicht lange standhalten. Weshalb niemand glaubt, daß die neue japanische Regierung ihr Deregulierungsprogramm so ernst nimmt, wie sie gegenüber dem Ausland vorgibt. Gerade die US-Regierung will es sich nicht länger gefallen lassen, daß japanische Waren den US-Markt aufrollen, ohne daß im gleichen Maße amerikanische Produkte in Japan verkauft werden können. Kritisch wird es für Japan erst dann, wenn jenes Fünftel an international konkurrenzfähigen Arbeitsplätzen bei Toyota oder Sony nicht mehr ausreicht, um wie bisher den Wohlstand des Landes zu sichern. Nicht nur daß die Mehrheit der Japaner dann erst lernen müßte, was produktives Arbeiten heißt. Vermutlich würde Japan ein sehr viel ungemütlicheres Land: ohne die vielen freundlichen Menschen, die heute noch für angeblich unnötige Dienste ordentlich bezahlt werden, und dabei nie auf jenen schrecklichen Gedanken von Millionen Arbeitslosen im Westen kommen, daß sie eigentlich unnütz sind. Was sie ja in der Tat auch nicht sind.
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