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Wann werden wir besser leben?

Am 8. Mai wählen die Ungarn, doch die Sieger scheinen schon sicher: die Ex-Kommunisten. Sie reden von der Zukunft, nicht von der Vergangenheit  ■ Aus Budapest Keno Verseck

An einem sonnigen Nachmittag im Frühling hat der erste Mann im Staate für seinen Werbeauftritt ein Lichtspieltheater gemietet. Die Menschen sind in Scharen gekommen, und die Luft wird bald stickig. Jemand bittet die Jungen, den Alten die Sitzplätze zu überlassen. Aber es sind keine Jungen da.

Als sich der Ministerpräsident Péter Boross seinen Weg durch die Versammelten bahnt, wird er mit rhythmischem Klatschen begrüßt. Er lächelt zufrieden, der kleine pausbäckige Mann. Während er sich langsam setzt, erstirbt das Lächeln auf seinen streichholzdünnen Lippen. Er zieht den Kopf zwischen die Schultern, blickt mißtrauisch durch den Saal. Die Wahlveranstaltung des MDF, der Regierungspartei „Ungarisches Demokratisches Forum“, beginnt.

Ein bekannter Schauspieler rezitiert Verse eines gewissen Petrovićs slowakischer Herkunft, als Nationaldichter besser bekannt unter dem Namen Sándor Petöfi: „Ungar bin ich! Ungar bin ich!“. Dann beschwört der 65jährige Boross Vorkriegszeiten – „als Magyaren und Österreicher noch denselben Lebensstandard hatten“. Internationalismus und Kosmopolitismus, sagt er, würden die Menschen niemals glücklich machen, die Ungarn bräuchten Gott. Er prophezeit: Sollten die Sozialisten die Wahl gewinnen, stürze Ungarn in Chaos und Katastrophe. Er benennt den „einzigen Ausweg zur Rettung der Nation“: seine Partei. Ein Typ, so um die vierzig, der nach Kneipe riecht, murmelt vor sich hin. „Unter dem Sozialismus, da hatten wir noch ein Leben!“ Er klopft sich auf die Brust. „Ich bin Kommunist!“ – „Schscht!“ zischen die Umstehenden.

Später dürfen Fragen gestellt werden. Ein Alter empört sich darüber, daß eine Kommission, bestehend aus drei ausländischen Journalisten, nach Budapest gekommen ist, um staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit zu untersuchen. „Was machen die Fremden hier“, fragt er, „gehört das Land etwa nicht uns?“ – „Richtig!“ schallt es aus den hinteren Reihen. Boross verdammt die ausländischen Journalisten mit anschwellender Stimme. Dafür erhält er den begeistertsten Applaus des Nachmittags.

Auch der Telekommunikationsminister beantwortet Fragen. Eine Frau beschwert sich, sie habe nur Gemeinplätze gehört, doch die Menschen wollten endlich eine sichere Zukunft. Die Leute buhen. „Laßt sie“, sagt der Minister, „ich kenne sie schon von unseren Veranstaltungen. Sie ist eine bestellte Fragerin.“ Der Frau verschlägt es Augenblicke lang die Sprache. Dann steht sie auf und will sich wehren. Ihre Worte gehen im Beifall unter.

Heimtücke – vielleicht gehört sie ja zum Wahlkampf. So wie die vielen pawlowschen Worte, die fallen – Gott, Nation und immer wieder Ungarn. Zu erwarten war vom MDF und anderen ungarischen Rechtsparteien im Wahlkampf auch, daß sie im politischen Gegner den Feind ausmachen würden. Das ist halb Strategie, halb Tradition. Für die Wirtschaftskrise und die große Unzufriedenheit der meisten Ungarn hat die Regierung häufig „antinationale Sabotageakte“ der Opposition verantwortlich gemacht.

Eine Niederlage des MDF bei den Parlamentswahlen am 8. Mai gilt als wahrscheinlich. Laut den letzten Umfragen bekommt die Partei zwischen 10 und 12 Prozent der Stimmen. Und so tritt Boross als hysterisch Drohender auf. Von den oppositionellen Sozialisten spricht er mehr als von seiner eigenen Partei. Und je mehr sie im Land an Sympathie gewinnen, desto schwärzer malt Boross die Restauration aus, die unter ihrer Ägide stattfinden würde.

Die bislang größte Oppositionspartei verzichtet auf eine negative Kampagne. Der „Bund Freier Demokraten“, der SZDSZ, in dem viele ehemalige Dissidenten Mitglieder sind, hat die Wirtschaft zu seinem Wahlkampfthema erhoben. Ihr Spitzenkandidat, Gábor Kuncze, resümiert und analysiert ausgewogen, stellt Konzepte und Prognosen vor und verspricht nichts – außer: zu versuchen, es besser zu machen. Der 43jährige Ökonom redet gemessen und kann zuhören. Geduldig, wie ein Familienvater. Die Ruhe ist ihm angeboren. Die allzu steife Würde hat er sich mit der Wahl zum Spitzenkandidaten zugelegt.

Kuncze fährt an diesem Tag in eine südungarische Kleinstadt. Auf der Landstraße verkehren noch Pferdewagen. Die Leute in den Dörfern sind ungleich schlechter angezogen als in der modernen Metropole Budapest. Hier gibt es Ortschaften, da haben die meisten Einwohner keine Arbeit mehr. Und keine Aussicht, eine zu bekommen. Die Genossenschaften sind aufgelöst worden. Bergwerke und Industriekomplexe wurden stillgelegt. Ohne ein Stück bestelltes Ackerland hinterm Haus wüßten viele Leute nicht, wie sie mit der Sozialhilfe auskommen sollen.

„Es stimmt nicht, daß die Regierung nur Schlechtes getan hat“, beginnt er seine Rede vor Einwohnern in Dombovár. Er zählt das Erreichte der letzten vier Jahre auf. Erst das Positive, dann das Negative. Und kommt zu dem Schluß, daß Ungarn Wachstum brauche. Dann nennt er Quellen zur Wachstumsfinanzierung. Steuersenkungen, Einsparungen im Staatsapparat und bei den Sozialausgaben. Später erklärt er nachdrücklich, warum auch etwas gegen Steuerbetrüger und Schwarzarbeit getan werden müsse.

Die Leute hören zu – mit wenig Verständnis für die ökonomischen Zusammenhänge, die Kuncze verdeutlichen will. Nach der Rede fragt eine Frau ungehalten: „Also, wann werden wir endlich besser leben?“ Kuncze ist der unbeirrbare Aufklärer in diesem Wahlkampf. Er antwortet: „Ich weiß es nicht und will Ihnen keine falschen Versprechungen machen. Aber...“ Dann analysiert und prognostiziert er wieder. „Tja“, murmelt die Frau, „das ist es eben.“ Kaum jemand scheint beeindruckt von Kunczes wahrlich ehrbarer Wahlstrategie.

In den Umfragen kommen die Freidemokraten derzeit mit 15 bis 17 Prozent auf den zweiten Platz nach den Sozialisten. Vor vier Jahren lagen sie auf Platz eins. Und verloren die Wahlen dann doch. Auch die zweitgrößte liberale Partei, der „Bund Junger Demokraten“ (Fidesz), in den Augen vieler Ungarn lange Zeit Hoffnungsträger, hat deutlich an Zuspruch verloren. Einst „alternativ-radikal“, sind die Jungdemokraten nun mit einer „gemäßigt-nationalen“ Linie in den Wahlkampf gezogen und erwägen neben den Freidemokraten auch das MDF als Koalitionspartner.

Ein weiteres knappes Dutzend kleinerer Parteien buhlt um die Gunst der Wähler. Die „Christlich- Demokratische Volkspartei“ etwa, kleinste Partei in der Noch- Regierungskoalition, hat sich vor Monaten verbal aus der Verantwortung gezogen und kritisiert seitdem die Politik, die sie früher mitgetragen hat. Der Chef einer der populärsten unter den etwa zehn Kleinlandwirte-Parteien, József Torgyán, ist ein unberechenbarer Rechtspopulist. Sein Auftreten erinnert an Goebbels. Er verspricht, die Macht zu übernehmen und Schluß zu machen mit der Privatisierung und den Kommunisten. Letztere versprechen – als „Arbeiterpartei“ – genau dasselbe, natürlich außer mit sich selbst Schluß zu machen.

Im Aufwind befindet sich momentan somit nur die „Ungarische Sozialistische Partei“ (MSZP), in der sich die früheren Reformkommunisten versammelt haben. Umfragen sehen sie bei mehr als 30 Prozent, und das obwohl sie in den letzten vier Jahren nicht zu den aktivsten Parteien gehörte. Und obwohl das regierungsnahe Fernsehen derzeit allerlei kaum zu beweisende Schauergeschichten über den Sozialisten-Chef Gyula Horn und seine Rolle bei der Unterdrückung der Revolution von 1956 verbreitet.

Oder vielleicht gerade deshalb. Die Attacken gegen Horn sind zu maßlos. Ungarn hatte am Ende eine „weiche Diktatur“. Und Horn ist nicht der Prototyp des gewendeten Funktionärs. Er wandelte sich vor der Wende zum Reformer. Er vermeidet nun, den Leuten zu erzählen, daß sie früher mit mehr sozialer Sicherheit lebten. Er erinnert – raffinierte Halbwahrheit – nur daran, daß seine Partei das Land „geordnet übergeben“ habe, was die kommende Regierung vom MDF nicht behaupten könne. Den Rest denken sich die Leute selber.

In Újpalota, einem großen Neubauviertel am Rande von Budapest, wo Horn vor den Bewohnern spricht, haben Gegendemonstranten keine Chance. Vielleicht 700 Menschen drängen sich in der Aula der „Blauen Schule“, um Horn zu erleben. Ein Mann tritt nach vorn und hält ein Plakat hoch, auf dem ein blutbeschmierter Stiefel, an dessen Sohle Hammer und Sichel kleben, eine emporstrebende Hand zertritt. „Ungarn 1956“ steht darunter. Die Leute sind empört. „Wir reden hier nicht über die Vergangenheit“, schreit eine Frau, „sondern über die Zukunft!“ Horns Leibwächter befördern den Mann sanft hinaus. Begeisterter Beifall.

Horn schweigt einige Augenblicke. Seine Augen wirken müde. In seinen Mundwinkeln liegt die ihm eigene Verletztheit. „Es freut mich“, sagt er dann, „daß sie das nicht zulassen. Wir brauchen keine Leute, die vierzig Jahre im Ausland waren, während das Volk vierzig Jahre gearbeitet hat.“ Wieder begeisterter Beifall. Horn ist der zu Unrecht Beleidigte. Das kommt bei den Leuten an. Denn auch sie sind zu Unrecht beleidigt worden. Was haben sie verbrochen, daß sie so viele Lasten tragen müssen?

„Ich hätte ja auch Dissidentin sein können!“ ruft eine ältere Frau ins Saalmikrofon. „Aber ich habe gearbeitet. Jetzt leben die Dissidenten von dem, was wir geschaffen haben. Und bei uns zu Hause wohnen noch immer drei Generationen in zwei Zimmern.“ – „Ich verstehe sie völlig“, sagt Horn, „auch ich will für meine Enkel eine Zukunft. Und, nichts für ungut“ – eine Redewendung, die er ständig gebraucht –, „ich werde nicht in die Residenz des Ministerpräsidenten einziehen. Ich bleibe in meiner Wohnung.“ Die Leute klatschen wieder begeistert.

Horn bestätigt die Leute aus Újpalota in ihren Sorgen. Hier gibt es, im Gegensatz zur Budapester Innenstadt, meistens nur Trabants, Wartburgs und Ladas. Ein Einkaufszentrum, zwei, drei Kneipen und kein Kino. Auf der Heimfahrt von der Arbeit, im Bus, drehen sich die Gespräche um die unbezahlbaren Preise. Abends trinken die Bewohner in Trainingsanzügen vor dem Blockeingang ihr Bier.

Manchmal verspricht Horn etwas. Nichts Unmögliches. Rentenerhöhung. Bessere Bildungsmöglichkeiten. Weniger Inflation, das heißt, die Preise steigen nicht so sehr. Mehr Sachverstand in der nächsten Regierung. Immerhin, am Ende von zwei Stunden sieht es irgendwie nach einem besseren Leben aus. Die Leute verabschieden Horn mit stehenden Ovationen. Ihre Blicke lächeln ihm zu. Der Profi verläßt den Saal durch den Hinterausgang.

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