: „Unbedeutender Titel“
Wegen Torlosigkeit wollte der Kaiser das Bajuwaren-Derby abbrechen, bis der Torrausch kam ■ Aus München Gerhard Pfeil
Das Volk hob an zum Hohngesang. Gesehen hatte es, wie der Ball seinen Dienst verweigerte, kaputtgetreten von dem Fußballer Mehmet Scholl, und sich ablösen ließ durch ein neues Spielgerät. Das war der Moment, auf den sie gewartet hatten, und so schallte es herab von den Rängen, zwo, drei: „Spielwiederholung, wir fordern Spielwiederholung.“
Gemach, gemach, war nur ein Witz. Ist alles regelgerecht zugegangen am vergangenen Dienstag im Münchner Olympiastadion. Es wurde ja auch genau hingeschaut. 17 Fernsehkameras observierten das Bajuwaren-Derby Teil III zwischen dem FC Bayern und dem 1. FC Nürnberg, das die Oberbayern auch nach eingehender Betrachtung durch die Superzeitlupe absolut rechtskräftig 5:0 (0:0) gewannen. Es kam auch zu keinem Déjà- vu-Ereignis. Nicht in jener unsäglichen 24. Minute – dem Augenblick, wir erinnern uns, da Helmer das Nicht-Tor gelang –, weil dieser in besagtem Moment fernab des Nürnberger Tores weilte. Nicht beim 1:0 für den FC Bayern (47.), weil der Ball, von Scholl getreten, tatsächlich den Bereich zwischen den beiden Torpfosten überquerte.
Nein, es war alles anders am Dienstag abend im Olympiastadion, die Vergangenheit blieb, wo sie hingehörte. Und deswegen sprach Franz Beckenbauer an seinem vorletzten Arbeitstag als Trainer des FC Bayern milde über den Deutschen Fußball-Bund und seine Entscheidungen der Vergangenheit (Beckenbauer: „Ich verspüre weder Genugtuung noch Schadenfreude“). Denn das Glück war seinen Anvertrauten mächtig hold gewesen als Entschädigung für erlittenes Ungemach (Wiederholungsspiel, Länderspielzoff mit Berti, muskellahmer Libero Lothar...). Da verfehlte Nürnbergs Wück freistehend (5.), segelte ein Kopfball von Golke nur knapp am Ziel vorbei (14.), parierte Aumann einen Schuß von Zitsch aus sechs Metern Entfernung glänzend (33.) und sprach Bayer Helmer hinterher nicht unzutreffend: „Da hatten wir wohl Glück.“ Und wer Glück hat, wird bekanntlich bisweilen Deutscher Meister. In München jedenfalls planen sie schon für die Feierlichkeiten, die am kommenden Samstag zu begehen sind, wenn auch Schalke 04 bezwungen wird. Eine Mordssause soll das geben. Nur einer tut derzeit so, als langweile ihn das Jubelfest. „Mir bedeutet dieser Titel doch nichts“, schwadronierte Beckenbauer sonderbar lethargisch und tat kund: „Ich hab doch schon alles gewonnen, das ist doch nur interessant für die Statistiker.“ Was dann wohl doch einigermaßen gelogen war, eingedenk der Kolportagen über die halbzeitliche Ansprache des Kaiserlichen. „Ein ziemliches Donnerwetter“ habe es gegeben, erzählte Nachwuchsmann Hamann. Über die Dezibelstärke der offensichtlich mäßig frommen Andacht berichtet Präsident Fritz Scherer: „Ich bin in Deckung gegangen, ich habe nie einen Trainer erlebt, der so massiv wurde.“ Näheres zum Inhalt überlieferte Spieler Zickler: „Beckenbauer hat uns gesagt, wenn ihr nicht Meister werden wollt, dann gehe ich jetzt rüber zum Schiedsrichter und sage ihm, er soll das Spiel abbrechen.“
Die Nürnberger hätten wahrscheinlich eingewilligt, weil es zur Pause eben noch 0:0 stand und sie mithin ihren Klassenerhalt geschafft hätten. So aber müssen sie bangen um den Verbleib in der Beletage der Zunft. Wie eine morsche Bretterbude wurden die Franken im Olympiastadion zerkloppt, nachdem Scholl zum 1:0 getroffen hatte und Libero Kubic kurz darauf die gelb-rote Karte vor die Nase gehalten bekam für allzu rüdes Benehmen. Per Freistoß erhöhte Scholl auf 2:0 (58.). Als Sutter und Oechler dann auch noch hübsch alleingelassen vorm Bayerntor die Gelegenheit zum Anschlußtreffer ignorierten, „brachen alle Dämme“, erkannte Club- Trainer Rainer Zobel. Jojo spielten die Platzherren fortan mit den Kollegen aus dem Fränkischen. Labbadia stolperte den Ball zum 3:0 ins Netz (79.), Hamann durfte sein erstes Bundesligator schießen (83.), ehe Labbadia die Nürnberger Abwehr abermals narrte und den Endstand erzielte (87.).
Und so ist nun wieder der Segen eingekehrt in der Münchner Fußballwelt. „Das war die beste Halbzeit, die ich hier je erlebt habe“, salbte Präsidiumsmitglied Karl- Heinz Rummenigge den Kick zum epochalen Ereignis. Und manch einem ist in den rauschhaften Minuten am Dienstag abend im Olympiastadion schon die Meisterschale erschienen. „Wir sind ganz dicht dran“, frohlockte Rummenigge, „jetzt weiß jeder, um was es geht“, meinte Spieler Schupp. Nur Zobel mochte noch nicht gratulieren: „Das Spiel der Bayern gegen Schalke steht noch 0:0 – glaub' ich.“
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