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Sprechender Penis

Mekka und Musentempel: Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen in der Eigenreflexion  ■ Von Thomas Miles

Am Anfang stand eine Fachtagung für Volkshochschul-Pädagogen im Jahre 1954 mit dem Titel „Westdeutsche Kulturfilmtage“. Mit dem Motto „Weg zum Nachbarn“ brach man 1958 auf zu neuen Ufern. Oberhausen unterminierte den Kalten Krieg. Filme aus dem sozialistischen Osten kamen ins Programm. Kulturförderung aus Bonn gab es deswegen für das „rote Festival“ zuerst keine. Ein Jahr später wurde es in „Westdeutsche Kurzfilmtage“ (seit 1992 „Internationale Kurzfilmtage“) umbenannt. 1962 folgte das Oberhausener Manifest: Der Film ist tot, es lebe der Film. In der Tradition ihrer französischen Vorbilder der Nouvelle vague riefen 26 Filmemacher (Alexander Kluge, Edgar Reitz, Ulrich Schamoni u.a.) dazu auf, einen „neuen deutschen Spielfilm zu schaffen“.

Oberhausen etablierte sich in den 60er Jahren als Forum des internationalen Kurzfilms. Asiatische und afrikanische Filme fanden den Weg ins Programm, später kamen zunehmend Beiträge aus Lateinamerika hinzu. 1970 lief die erste Computeranimation, in den 80ern gab die Videotechnik dem Kurzfilm neue Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks.

Anläßlich der 40. Auflage des drittältesten Filmfestivals Deutschlands war jetzt als persönliche Reminiszenz eine Retrospektive zu sehen, die den Zeitgeist vergangener Jahre aufleben ließ, als dessen Spiegel sich Oberhausen immer verstanden hat. Exemplarisch nachvollziehbar wurde der über die Jahre erfolgte Wandel der Schule des Blicks und der Augenlust, die der Kurzfilm für die Festivalleitung stets dargestellt hat.

In der 50er-Retro liefen gleich drei Filme von Protagonisten der Nouvelle vague. François Truffaut und Jean Luc Godard waren mit „Les Mistons“ und mit „Charlotte et son Jules“, beide 1958, vertreten. Jacques Rivettes „Le coup du berger“ („Der Zug des Schäfers“) von 1957, für den Claude Chabrol am Drehbuch mitschrieb, persifliert die Ehe als Analogie zu einem Schachspiel. Eine verheiratete Frau möchte sich von ihrem Liebhaber mittels eines fingierten Gepäckscheins einen kostbaren Pelz schenken lassen. Der Ehemann wird dazu überredet, das Gepäckstück beizubringen. Überraschenderweise enthält es nur ein wertloses Kaninchenfell. Der Liebhaber ohne Geschenk ist nutzlos und wird geopfert, und das Spiel ist endgültig verloren, als die jüngere Schwester mit dem Objekt der Begierde bekleidet abends zur Cocktailparty erscheint.

Eine Hommage an die Freiheit des intellektuellen Denkens ist der Animationsfilm „Monsieur Tête“, inspiriert von den „Antidramen“ des französischen Schrifstellers Eugène Ionescu. Der polnische Grafiker Jan Lenica gewann damit 1960 den Großen Preis der Kurzfilmtage. Ein Mann kommt seines anarchistischen Denkens wegen mit seinen Zeitgenossen und der Ordnung des Systems in Konflikt. Mit sich selbst zerstritten, löst er den inneren Zwiespalt, indem er seine Ideale widerruft und zum Musterbürger wird.

In der 60er-Retro lief mit „THX 1138 4 EB“ von George Lucas der Vorläufer des gleichnamigen Spielfilms aus dem Jahre 1971. Eine Adaption von Orwells „1984“, in der die Individuen mittels auf der Stirn eingestempelten Zahlencodes überwacht und gesteuert werden. Der Skandalfilm des Jahres 1968 fehlte nicht. Hellmuth Costards „Besonders wertvoll“, in dem ein sprechender Penis über die Bundesfilmförderung polemisiert, wurde damals in inquisitorischer Manier vom Festival verbannt. Der Film wurde dann in einem Hörsaal der Uni Bochum aufgeführt.

In den 70er und 80er Jahren waren die aus Lohnverhältnissen resultierenden Arbeitsbedingungen und Konflikte ein bestimmendes Thema. Der 1973 prämierte kolumbianische Film „Chiracles“ („Ziegeleiarbeiter“) von Marta Rodriguez und Jorge Silva dokumentiert das Leben einer Familie, die mit dem wenigen, was sie verdient, gerade ihr ärmliches Leben fristen kann. Staub, Lärm, Schmutz und Feuchtigkeit zehren in „Robotnice“ („Arbeiterinnen“) an der körperlichen Substanz der Beschäftigten einer Spinnerei, die von der Betriebsleitung ausgebeutet werden. Der Film der Polin Irena Kamienska wurde 1981 ausgezeichnet.

Veränderungen einer alten indischen Tradition thematisiert der 1982 zweifach prämierte Film „Gift of Love“ von Meera Dewa. Die Mitgift, ursprünglich ein Geschenk der Eltern der Braut, wird mittlerweile von der Familie des Bräutigams eingefordert. Werden diese Forderungen nicht in ausreichendem Maße erfüllt, werden die Frauen nicht selten mißhandelt, durch Verbrennung verstümmelt oder sogar ermordet. Die Frauen sind rechtlose Individuen, die vom Eigentum der Eltern zum Eigentum der Familie des Bräutigams werden.

„Die Diskussion in Oberhausen ist eine ästhetische, die Dimension eine sozialpolitische.“ Die programmatische Vorgabe von Festivalleiterin Angela Haardt wurde auch in diesem Jahr durch die Preisvergabe bestätigt. Es finden sich fast ausnahmslos Beiträge, die genannter Dimension entsprechen. Da der diesjährige Wettbewerb aber insgesamt weniger überzeugte, zehrte Oberhausen 1994 mehr vom Ruhm der alten Tage. Eine These des Malers und Filmemachers Jochen Kuhn, letztjähriger Preisträger mit „Sylvester“, scheint bestätigt: Das Niveau der Filme sinkt durch die Masse, die Festivals werden regelrecht überflutet, Differenz ist immer weniger gewährleistet.

Der Kurzfilm wird oft nur noch als Sprungbrett für eine lukrativere Langfilmproduktion angesehen. Als eigenständigem künstlerischem Genre wird ihm so kein Gefallen getan.

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