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Gefängnisträume

Notizen aus einem israelischen Gefangenenlager  ■ Von Izzat Ghazzawi

Heute nacht wachte ich aus einem Traum auf. Die Zeit ist wie ein langsames Verbluten, in dem Stille und Schwindel herrschen. Ich versuchte, mir den Traum wieder zusammenzusetzen, aber seine Bruchstücke waren schon zu weit verstreut. Statt eines neuen Traums nahm eine alte Geschichte nach 22 Jahren langsam vor meinen Augen Gestalt an.

Juni 1967. Ich bin 14 Jahre alt. Die Menschen sprechen von Krieg. Ich sehe, wie sie in der großen Moschee unseres Dorfes im Kreis sitzen. Sie brennen. Was bedeutet Krieg? Abend. 9. Juni. Ich spüre Spannung, Schmerz und Traurigkeit. Meine Mutter kommt herein, eilig, hat ihre übliche Scheu verloren. In der Mitte des Zimmers liegt mein Vater auf seinem Bett; rhythmisch schlägt er sich auf den Fuß, seine Augen sind stumpf. Der Krieg scheint ihn nicht zu interessieren. Er geht nicht auf die Straße, um Neuigkeiten zu erfahren, scheint zufrieden mit dem, was man ihm zuträgt. Seine Stimme ist anders als sonst. Das erste Mal sehe ich, daß mein Vater sich seltsam benimmt. Immer wieder sagt er einen Vers vor sich hin: „Er hat in dieser Welt hart gearbeitet. Die Hoffnung hat ihn getrogen. Der Tod kommt plötzlich, und jetzt ist das Grab seine Arbeit.“ Meine Mutter schreit ihn an. „Alle fliehen nach Osten, und du sitzt hier und sagst Gedichte auf?“ Er hört zu sprechen auf und öffnet die Augen. Er ist 70 Jahre alt. Sein Haar ist weiß, sein Bart hell. Ein friedlicher Mann, der sein Haus liebt und meine Mutter. 1948 floh er mit allen anderen, wurde zum Flüchtling. Unter der Treppe des Hauses ließ er seine sterbende Mutter zurück. Sie starb unter den Trümmern. Er hat sein Leben lang um sie geweint ..., er, ihr einziger Sohn; sie, seine einzige Mutter. „Gehen?“ sagt er zu meiner Mutter. Sie sagt: „Im Dorf ist keiner mehr.“ Er schaut die dreijährige Siham an, die Tochter meiner Schwester. Sie ließ sie bei ihrem letzten Besuch bei uns. Meine Schwester wartet auf der anderen Seite des Jordan. Jetzt ist Krieg. Ich sehe den Schrecken in seinen Augen.

„Bring mir meine Kleider“, sagt mein Vater mit leiser Stimme. Meine Mutter öffnet den Schrank und gibt ihm ein Bündel heraus. Er steht in seinen weißen Hosen im Hof und reißt ein Streichholz an. Wir stehen versteinert und sehen zu, auch meine Mutter. Wir lassen ihn im Dorf, alleine, wissen, daß er nicht mit uns nach Osten reisen wird. Wir sind nicht lange fort. Vier Tage später finden wir ihn, wie wir ihn verlassen haben. Er trinkt Tee. Papa, jetzt verstehe ich deine Angst vor dem Weggehen.

Der mich im Gefängnis verhörte, sagte mir am 3. März 1988, daß Deportation eine harte, aber angemessene Strafe ist. Vielleicht wollte er nur meine Reaktion testen.

Papa, erinnerst du dich, wie ich über den Fluß ging, um Siham zu ihrer Mutter zu bringen? Ich konnte dir von meinen Gefühlen nicht erzählen, mein Schmerz war zu heftig, meine Not zu groß. Das, glaube ich, war ein Fehler, unsere Unfähigkeit zur Kommunikation. Denn als wir endlich sprechen konnten, als ich 18 war und du fast 80, da war meine Geschichte alt, war schon gestorben. Nur jetzt fühle ich sie wieder, frisch wie einen Luftzug.

Die Ladefläche des Lasters schwankte unter uns, wir saßen auf unseren Bündeln. Manche riefen und lärmten so lange, bis sie ihre Besitztümer sicher verstaut glaubten. Frauen wurden blaß auf der Reise, und Kinder kränkelten. Sie erbrachen sich und krochen ihren Müttern auf den Schoß. Siham schlief friedlich auf meinen Knien. Ich saß am Rand und konnte die Straße sehen. Die Ebene von Toubas weinte, wie ich es mir vorgestellt hatte. Kein Pflug auf den Feldern, der die Spuren hätte verwischen können, die sich tief in die Ebene gegraben hatten, ich sah nur wenige Grünflächen. Der Lastwagen hielt am Ufer des Flusses. Die Männer sprangen ab, sie nahmen ihre Kinder und halfen ihren Frauen herunter. Ich sprang mit Siham im Arm hinunter und nahm mein Bündel. Der Jordan war ein trockenes Flußbett; außer ein paar Bambusschößlingen gab es nichts Lebendiges hier. Die Sonne brannte. Aus Angst, entdeckt zu werden, hielten wir den Atem an. Dabei begingen wir kein Verbrechen, wir reisten nur, jeder hatte seine eigenen Gründe. Ich hielt ein Auto an und wurde mitgenommen, wußte nicht, wohin. In Deir Allah stiegen wir aus, das Kind schlief in meinen Armen. Siham öffnete die Augen erst, als wir bei ihrer Mutter waren. Mit der angespannten Freude, die auf ein Wiedersehen folgt, sah sie ihrer Mutter ins Gesicht. Unsere Ankunft war eigentlich gar nicht möglich, eine große Überraschung.

Nachdem ich mein Mündel sicher abgeliefert hatte, lief ich in die Falle. Obwohl ich es versuchte, fand ich in den drei Monaten, die ich auf der anderen Seite des Flusses verbrachte, keine Ruhe. Alles war mir fremd. Mir fehlte der Frieden mit mir selbst. Ich ging den ganzen Weg zu Fuß zurück. Und als ich schließlich auf die ersten Häuser von Nablus traf, begriff ich, was Rückkehr heißt. Erst da habe ich verstanden, warum du dein Kleiderbündel angezündet hast, als du fortgehen solltest.

VI

Selbst Träume sterben in der Gefängniszelle, manchmal kommen sie wieder. Ich hatte die Erinnerung an meine Zeit jenseits des Flusses nicht heraufbeschwören wollen. Gegen meinen Willen stand ich in einer langen Schlange mit Kindern und Frauen vor einem großen Zelt. Ich hielt einen Plastikbehälter in der Hand. Meine Hände zitterten aus Scham, Angst und Wut. Ich war spät an der Reihe. Der Mann gab mir ein Stück Brot und schöpfte gekochte Bohnen in den Plastikbehälter.

X

Ich starre in den Abgrund des Schmerzes. Die Zelle läßt sich nicht leugnen, auch wenn der natürliche Drang, ihr zu entkommen, stark ist. Habe ich wirklich geglaubt, daß ich als Schriftsteller irgendwie geschützt wäre? Vielleicht war es Arroganz, vielleicht aber auch nur der Abgrund zwischen einem Kampf mit friedlichen menschlichen Mitteln und dem Kampf mit Gewehren.

„Was glaubst du“, sagte der, der mich verhörte. „Warum sollten wir demokratischer sein als die Engländer. Und die arbeiten bei der Vernehmung von IRA Leuten auch mit diesen Methoden.“ „Warum tust du dir nicht selbst einen Gefallen und nimmst gleich die Knarre? Wenn du willst, kann ich dir einen Grund geben, mich umzulegen“, antwortete ich. „Warum sollte ich dich umlegen – einfach so? Du sollst langsam sterben.“

Ein langsamer Tod, einfach so, an einem unbestimmten Ort – allein, mit nichts beschwert als dem eigenen Glauben! Man sieht nur die eigene Seele, wie sie Segel setzt.

Ich starre dieser zweifachen Tragödie ins Gesicht: Tod und Heimat. Heimat war immer ein Ausgangspunkt für Kreativität; sie führt die Seele in Versuchung mit Bildern, die ich spüren, aber nicht sehen kann, nicht anfassen, nicht hören. Hat die Heimat verdient, daß wir für sie sterben? Die Frage war kein flüchtiger Einfall. Sie war hartnäckig, wollte Antwort. Drängte sich auf. Also, sagte sie, jetzt antworte mal.

Am Ende kannst du die Heimat verlassen, aber sie verläßt dich nicht. Sie ist das Licht auf der Stirn deiner Frau, die Berührung eines Kindes, die Ruhestunde auf dem Balkon, das Laufen auf der Straße, der Schatten einer Stadt, die einschläft oder erwacht. Was bleibt, wenn das verlorengeht? Warum empfinden wir die Heimat als Tragödie? Nur weil wir sie verlieren? Aber wenn sie ist, was ich gerade beschrieben habe, können wir sie gar nicht verlieren. Sind wir so um sie besorgt, weil wir sie ständig spüren? Als ob wir fürchten, eines Tages aufzuwachen und sie wäre fort.

Auch für Solschenizyn war nur wichtig, daß er den ruhigen Don und die ukrainischen Ebenen in der Tasche seines Herzens tragen konnte, wie es Nazim Hikmet einmal ausdrückte, als er aus seiner Heimat fortging. In diesem Sinne ging die Heimat von ihm nie fort.

Ist dies nicht auch die Tragödie von Mahmoud Darwish und Mu'in Besaisu? Mahmoud verließ den Carmel und ging nach Zypern, London, Kairo und Beirut, und auch wenn er versuchte, mit seiner Dichtung die Höhen solcher Dichter wie Paul Eluard, Lorca und Tagore zu erklimmen, so kam er doch nie woanders hin als auf den Gipfel des Carmel, seinen Ort, wo er ausruhen konnte von der Erschöpfung des Reisens.

Mahmoud Darwish hat erlebt, wie es ist, wenn einem die Heimat auf allen Reisen folgt wie eine Frau, die man kaum kennt und die sich trotzdem im Körper einnistet. Er wandte sich schließlich direkt an sie: „Deine Augen stechen mich ins Herz, dein Anblick schmerzt mich, aber nur deinen Blick, nur deine Augen bete ich an.“ Auch in Beirut lebte diese fremde Frau in ihm, und auch in London versteckte sie sich nicht. Langsam hat er wohl begriffen, daß er vor ihr mit keiner Reise fortlaufen konnte, und begann, ihr die schönsten Lieder vorzusingen. Er reiste mit ihr um die Welt, und sie wuchs mit ihm an Erfahrung. Mit farbigem Stift malte er neue Bilder über kindliche Erinnerungen, die man leicht vergißt. Das Gedicht im Moment seiner Schöpfung wurde ihm zur Heimat. Ach, wie er versuchte, seinem Vers zu gefallen, ihn zu streicheln, selbst seine Stacheln noch zu küssen; er trug Bruchstücke von Versen in den Falten seiner Seele.

Auch Muhammed al-Qaisy war wie Mahmoud. Für ihn war die Heimat eine Welle, die sich seinem Zugriff entzog.

„Flüchtiges Blau, bleibe.

Die Erde neigt sich

und Wasser steigt

und Dörfer schlafen, ein Haus

neben dem anderen

ich gebe meine Seele für einen

Tisch zu diesem Mahl.

Kann meinen Küchentisch nicht

finden.

Flüchtiges Blau, du

Ich fand kein Bett für meine

Liebe

die Wellen fliehen mich,

sie fliehen.“

Wenn Dörfer schlafen, Haus neben Haus, kommt die Erinnerung, und die Seele ist ein Schlachtfeld von Verlust und Sehnsucht. Das Gedicht erhebt sich, in die Lüfte, und dreht sich im Kreis, es kreiselt, als wollte es dem Dichter im Schwindel die starke Kraft bewußt machen, die die Heimat ist.

Sie wissen alle, daß Heimat sie nicht verläßt, sondern ihnen folgt. Sie bricht plötzlich aus einem heraus – als Lied oder flüchtiges Bild oder stiller Moment. Und wird endlich zu ihrem eigenen Spiegel. Heimat und Gedicht sind kreative Kräfte, die miteinander flirten, sich unbarmherzig verfolgen, gewalttätig wie Mörder. Das ist die wahre Bedeutung dessen, daß Tod und die Liebe zur Heimat eins werden.

Auch der Dichter Akram Haniyyeh war erschrocken über die Entfremdung, die schon eintrat, als er noch in der Heimat war. Er schrieb eine Geschichte mit dem Titel „Der Tod des Bürgers Muna L.“. In ihr vermischt sich alles unauflöslich miteinander, und seine Heldin muß sich schließlich entscheiden zwischen einer Existenz in der ermordeten Heimat oder dem eigenen Selbstmord.

Im gleichen Dilemma befand sich auch der Gefangene, der auf dem Boden saß und durch den Stacheldraht von Ansar III nach draußen sah; hier singen die Gefangenen – um das Gefühl von Exil im eigenen Land abzuschütteln, ihre Entfremdung und ihren langsamen Tod. [...]

XIII

Sie geben dir vielleicht die Armbanduhr wieder, aber sie stehlen dir doch die Zeit, sagt Muhammad al-Maghout. Wozu also machst du dir Sorgen, wenn dir die Zeit doch nicht gehört? Sei ruhig. Sie werden dir auch die Uhr nicht sofort geben. Aber wohin bringen sie dich?

Auch das ist nicht mehr wichtig, selbst dann nicht, wenn der Bus vorm Tor des Gefängnisses von Ramleh hält. Wie sehr ich mir doch wünschte, daß sich meine Indifferenz dem achten Himmel annähere – wie Avicenna sagt: „Der achte ist eine gestaltlose Ebene...“

Dies war kein plötzlicher Wutanfall oder die Gleichgültigkeit eines Bohèmien. Ich glaube, eher begriff ich, wie überfällig ein Gedicht war, wie dringlich ich es erwartete... schnell ... in einem Wahnanfall ... um gegen die Armbanduhr anzugehen, das leere Handgelenk, die Entfernung zwischen Gefängnistor und der Sonne in den Straßen. Wie weit das ist,

der Weg zwischen ihnen. Und was für ein Gegensatz liegt zwischen dem, was mein Verstand mir sagt und was mein Herz fühlt. Auf wen soll ich hören? Ich habe mein Lebenswerk wie eine Frucht in zwei gleiche Hälften geteilt. Wie auch Stille und Klang für einen Tauben das gleiche ist. Meine Wahl ist einfach: zwischen Weisheit und Wahnsinn.

Wenn das so einfach wäre, der Unterschied zwischen beiden so klar, wie Aragon glaubte! Gibt es überhaupt eine Wahl zwischen Weisheit und Wahnsinn? Selbst wenn ich mich zwischen beiden entscheiden könnte, kann ich hier im Gefängnis doch beides nicht brauchen.

Meine kleine Tochter Marwa war erst sechs Monate alt, als ich sie schon verließ. Ich verschwand aus ihrer Welt auf eine Weise, die ich nie vergessen werde. Marwa ist mein besonderes Geheimnis. Durch sie hörte ich auf, Jungen vorzuziehen ..., und zwar vom Augenblick ihrer Geburt an.

An jenem letzten Morgen wachte ich aus einem Alptraum auf. Leise stand ich auf und stahl mich zu ihrer Wiege. Ich zog die Decke von ihrem warmen roten Gesicht. Sie lächelte schläfrig, und dieses Lächeln weckte den Wunsch, daß sie in mir sein könnte, ein Teil von mir. Als sie die Augen öffnete, staunte ich – und noch einmal, als ihr Lächeln heller wurde. Sie sah aus, als ob sie sich gewünscht hätte, daß ich da bin. Ich beugte mich tiefer zu ihr herab, sah sie an. Wie eine Oase war sie für einen ausgetrockneten Wanderer. Wie konnte ich sie je verlassen? Ihre kleinen Hände arbeiteten sich unter der Decke hervor und griffen nach meinem Gesicht.

Tochter – diese vier Monate, von unserem letzten Morgen bis zu deinem ersten Besuch hier im Gefängnis in Ramleh, waren erfüllt mit dem Strahlen dieses Lächelns. Wenn ich die Gefängnismauern hinter mir ließ und mich durch die Felder auf den Rückweg machte, war das erste, was ich sah, dein kleines Gesicht, in allen Einzelheiten. Ich hatte Angst, es würde sich verändern, bevor ich dich das nächste Mal sah. Fällt Kindheit so schnell von einem ab? Jetzt sitzt du auf der anderen Seite des Maschendrahts und siehst mich unbeteiligt an. Deine Unbeteiligtheit schmerzt. Blitzschnell steht mir deine ganze kleine Gestalt wieder vor Augen, und ich wundere mich über die Veränderungen. Du warst nur eine halbe Stunde hier, aber ich durchlebe sie noch einmal wie Kapitel und Vers einer heiligen Schrift, wie ein Mann, der jetzt die Stunde seiner Geburt und seines Todes kennt. Die Stunde der Geburt ist voller Ahnung, denn auf sie folgt das ganze Leben. Und bis zum Ende des Lebens folgt auch die Angst. Du stehst da und siehst mich an. Als hätte ich nicht mit deinem Haar gespielt. Als hätte ich meinen Durst nie im Brunnen deines Gesichts gelöscht. Als würde ich mir nicht die Berührung deiner Hände wünschen. Als hätte ich dich nie in warmem Wasser gebadet und dir Geschichten erzählt, als du noch nicht einmal wußtest, was Geschichten sind. Als wäre ich nicht wütend, daß mein Bild aus deinem Gedächtnis gelöscht ist ... Oh Marwa ... meine Appelle nützen nichts. Das Eis deiner Gleichgültigkeit will nicht schmelzen. Deine Wut kann ich nicht sehen. Aber ich sehe das Zögern, das aus der Angst kommt. Wer ist dieser Mann hinter dem Zaun. Wer ist er, daß er mich um Erinnerungen bittet, an Momente, von denen er dachte, sie wären ewig?

Du hast dich meinem Kuß entzogen, meine Worte ignoriert und bist unbeteiligt geblieben, selbst als die Polizisten mit dem üblichen Gebrüll das Ende der Besuchszeit verkündeten.

Jetzt verstehe ich, wie einer wissen kann, wann er geboren ist und wann er sterben muß. Jetzt kann ich die Entfernung zwischen Anfang und Ende messen. Verschließt so einer seine Welt? Läßt er nichts mehr herein und sieht, wie Farben, Gerüche und Stimmen verblassen? Warum erstaunt uns der Tod immer noch so? Die Besatzung hat ihn uns doch schon früh gezeigt. Als ich in meine Zelle zurückkam und keiner sich nach mir erkundigte – außer „War der Besuch schön?“ –, wollte ich meine Welt verschließen.

Ich sah mich wieder am Eingang des Flüchtlingslagers stehen, in das ich als Kind gekommen war. Für mich war das die Welt, war das Realität, normal und völlig in Ordnung ..., als ob die Blechhütten unser Werk, die Jauchegräben und der Gestank unsere Wahl gewesen wären, als ob wir Hunger hätten, weil wir fasteten. Als ob Gott (der unser zum Winteranfang frischgewaschenes Herz ist) aufgegeben und die Tore der Barmherzigkeit vor uns geschlossen hätte. Aha – das könnte der Anfang eines Gedichtes werden. Dieser Gedanke, dieses Bild, brachte mich zurück...– obwohl Marwa mich nicht erkannt hatte.

XIX

Du schläfst und läßt mir nur diesen Ausweg: ein abgedunkeltes Fenster... Gelbes Licht und ein blinkendes Rotlicht vom Wachturm. Der Schatten eines bewaffneten Polizisten wandert im immer gleichen Ausschnitt auf und ab. Am Tor zur Transitabteilung ist es jetzt still, als wäre da nie einer gewesen, als sei es irgendein Ort, der zufällig gerade verlassen ist. Der Hof sieht aus wie fürs Erhängen, oder vielleicht für danach, wenn alles wieder normal ist, die hin- und herschwingenden Leiber der Erhängten abgenommen sind... Die Unschuld nach dem Mord, die „Kreuzigung des Schattens“ hat Aragon es genannt. „Das Glück der Mörder, die sich nicht stören lassen von den Stimmen der Toten... Sie schlafen und lächeln.“

Also, was soll dann dieser Krach, Fawwaz Abu Kaf, 19 Jahre alt, aus Sur Baher bei Jerusalem? Du sagst: „Sie haben mich abends geholt, irgendwann nach acht. Ein harter Schlag gegen Tür und Fenster. Meine Mutter rennt ängstlich in mein Schlafzimmer und ruft ,Fawwaz ... hörst du?‘ Der Schlag hat mich geweckt, und ich krieche tiefer unter die Decke, versuche, es zu überhören. Warum bloß habe ich ,nein‘ gesagt, als Adli mich einlud, bei ihm über Nacht zu bleiben? Der Lärm, das Rufen wird lauter. Meine Mutter jammert, weil sie fast die Tür einschlagen. Ihre Hände hat sie zu Fäusten geballt und schlägt sich damit auf die Hüften. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie schaffe ich es, mich in die Klamotten zu zwängen. Minuten später hat mich ein Bataillon von Polizei und Polizeiautos geschluckt. Hände und Füße sind gefesselt. Nach sieben Tagen erfahre ich, daß ich im Haftzentrum des Russian Compound (Jerusalem) bin. Ein Häftling, der neben mir am Boden angekettet liegt, klärt mich auf.

Ich werde euch nicht mit den Schlägen aufhalten. Der nasse Sack war's, der mich fertiggemacht hat. Sie haben mich so lange damit stranguliert, bis ich fühlte, wie mir die Augen aus den Höhlen quellen. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich keine andere Wahl, als auszupacken.“

Fawwaz – das hast du gesagt und dann verlegen gelächelt, auf unseren Kommentar gewartet. Einer von uns sagte, ja, daß die Verhöre schwierig sind. Er sagte es, als ob er von etwas allgemein Bekanntem spreche. Deine Reaktion darauf war seltsam. Deine Augen strahlten, als ob dieser Satz dir deinen Mut zurückgegeben hätte. Aber bevor du sprechen konntest und wieder Versprechungen machen – von denen du im Innersten genau wußtest, daß du sie nicht würdest halten können –, sprang ein anderer Mitgefangener, ein sehr junger, auf und ging auf dich zu.

„Hättest du nicht wenigstens ein paar Tage länger aushalten können?“ wollte er wissen. Das Licht in deinen Augen erlosch. Du hast zu ihm aufgeblickt, dann zu uns rübergesehen, verwirrt. „Natürlich nicht.“ Dann: „Wenn du an meiner Stelle gewesen wärst...“

„Das ist es ja grade“, schrie der Junge. „Wir waren alle an deiner Stelle. Demnächst wirst du uns noch erzählen, wie es war, als sie dir Hände und Füße aneinandergebunden, schön festgezogen und dich von der Decke haben hängen lassen, daß dein Körper krumm war wie eine Banane. Und von dem kalten Wasser, dem verschlossenen Kühlschrank, dem Hunger... und all dem anderen Scheiß. Okay, ich geb's zu. Ich hab' auch ausgepackt, genau wie du. Ich bin auch kein Held. Aber wenigstens hab' ich bis zum Schluß ausgehalten.“

Und du, Fawwaz, hast in verzweifelter Verteidigung geschrien: „Wieso hast du dann ausgepackt? Wer hat dich gezwungen? Ich hab' zugegeben, daß ich kein Held war. Ich habe es dir und den anderen Brüdern gestanden. Vielleicht hätte ich länger aushalten können. Aber es war mein erstes Mal, und ich hatte keine Ahnung, was da auf mich zukommt. Ich war nicht vorbereitet. Ich dachte, die bringen mich um. Daß ich da nicht mehr lebend rauskomme. Es tut mir leid. Aber ich wollte, daß ihr die Wahrheit kennt.“

Fawwaz, für uns alle sind die Tage nach dem Geständnis die schlimmsten, schlimmer als das Verhör und die Folter selbst. Wir sind ängstlich und unruhig, warten auf den Rechtsanwalt, darauf, daß der Prozeß verschoben wird, und auf die Besuchserlaubnis. Im Gefängnis wird man vergessen, wie Werkzeug, das rostig geworden ist. Die Jahre fressen uns, und wir fressen die Jahre. Und was tun wir? Wir fehlen und schieben dann unsere Verfehlungen auf die Schwachheit. Wir sagen, wir hätten Angst gehabt, in der Zelle zu krepieren. Oder retten uns in die uralte Ausrede, sie hätten ohnehin schon alles gewußt und daß es nicht schlau gewesen wäre, länger auszuhalten. Manchmal behaupten wir auch, wir hätten unsere Verhörer besiegt, daß es andere aus unserer Gruppe waren, die ausgepackt haben. Manchmal denken wir uns sogar die Namen der „Genossen“ aus, die uns verraten haben.

Was soll solche Erpressung? Ist es überhaupt Erpressung? Manchmal können wir nach Stunden in unseren überfüllten Zellen nicht mehr unterscheiden zwischen Geschrei und normalem Gespräch. Gibt es da überhaupt noch einen Unterschied, in einer winzigen Zelle voller Eisenbetten, mit einer Kloschüssel und acht Männern? Selbst die Beziehung zu meiner inneren Welt geht mir hier verloren. Ich sehe die nackten Füße vor mir wie im Traum. Wand, Hof, Straße. Wir schreien nicht nur, wir machen eine schmerzliche Inventur der Intifada und gewisser Dinge, die wir auch lieber vergessen würden. Die Wolken da, die ich durch das abgedunkelte Fenster sehe. Sind es unsere Sünden, die uns verfolgen? Hoffentlich ist es nur Regen...

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