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Indien lüftet mehr als den Schleier

Beginnt im Land des Kamasutra eine sexuelle Revolution? Westliche Konsumgüter und Fernsehbilder übertragen neue Einstellungen und Rollenbilder und rühren an sexuellen Tabus  ■ Von Bernard Imhasly

„Sexy sexy sexy“ heißt der Titel des Liedchens. „Das ganze Leben ist sexy“: Vater und Mutter sind es, die Bluse und die Hose, das Essen und die Arbeit und natürlich Männliches in all seinen Spielarten. 118mal gelingt es der krähenden Frauenstimme, das Wort in den Zwei-Minuten-Hit zu pressen – von der Originalsprache Hindi bleibt nicht mehr viel übrig. Für die erschrockenen konservativen Männer der indischen Zensurbehörde war dies zuviel des Schlechten. Vor einigen Monaten hatten sie mutig einen anzüglichen Filmsong passieren lassen, weil die Sängerin auf die selbstgestellte Frage, was sich unter ihrer Bluse verbirgt, scheinheilig antwortete: „mein Herz“. Nun schritten sie ein. Hose und Hemd durften sexy bleiben, aber Mutter und Vater nicht – sie suggerierten eine inzestuöse Beziehung. Und eine Reihe weiterer Objekte verloren ebenfalls ihren Kitzel: statt „sexy“ waren sie nun, Grammatik hin oder her, „baby“.

Die Besessenheit, mit der indische Filme und Unterhaltungsmusik tabuisierte Begriffe aus der Brust herausschreien, zeigt, daß die Öffnung für westliche Güter und Fernsehkonserven zentrale gesellschaftliche Bereiche zu erfassen beginnt. Ein halbes Jahrhundert lang hatte die populäre Kulturindustrie die staatlich abgesegneten Rollenvorbilder und -muster weitergegeben: das Dorf war das geographische Zentrum der Welt, die Familie das soziale Universum, der Mann ein Held oder Bösewicht und die Frau entweder das unschuldige Mädchen oder die herzensgute Mutter. Ihr wichtigstes Requisit war der Gesichtsschleier.

Zwar gab es immer schon eine robuste Volkskultur, in welcher die Beziehung zwischen den Geschlechtern in allen Schattierungen beim Namen genannt wurde – vom drastischen Volkslied, in dem das erotische Knistern zwischen Schwiegervater und Schwiegertochter verspottet wird, bis zu den mystischen Hymnen, in denen Gott Shiva seine männliche Potenz in spirituelle Energie umwandelt. Auch die Filme zerrten immer mehr an Tabus wie dem nackten Körper oder dem Verbot des Küssens, indem sie sich zu Orgien der Suggestion verstiegen: Zitternde Lippen in Großaufnahme und Wasserszenen, in denen der nasse Sari jeden Körperteil verhüllt (und enthüllt), gehören zum Standardinventar jeder Produktion aus den Studios von „Bollywood“, wie die Filmmetropole Bombay im Volksmund heißt.

Plötzlich scheinen nun aber alle Hüllen zu fallen. Das geschieht so rasch, daß die Vermutung naheliegt, der Einbruch von MTV und „Santa Barbara“, von L'Oréal- Reklamen und „Szenen aus dem Leben der Superreichen“ habe lediglich einen langen Stauprozeß zum Überlaufen gebracht. Sowohl der Staat wie auch das gesellschaftliche Establishment stehen dem Phänomen weitgehend macht- und orientierungslos gegenüber. Bestenfalls vertrösten sie sich mit dem Glauben, das ländliche Indien bleibe davon verschont. Daß auch dies Wunschdenken sein könnte, zeigt die Zunahme von Morden an jungen Liebespaaren durch Familien- oder Kastenangehörige. Meist handelt es sich dabei um junge Dorfbewohner, die sich an modernen Rollenbildern orientieren, sich einen eigenen Partner suchen und damit eine mittelalterlich-patriarchalische Kastengesellschaft herausfordern.

Zweifellos stoßen die neuen Reize besonders bei den rund 200 Millionen Menschen in den Städten auf Gegenliebe. Das Wochenmagazin Sunday spricht von Indien als einem „brodelnden Dampfkocher der Sexualität“. Filme und Popmusik bilden ein Ventil, das dafür sorgt, daß die Sexualität ein Teil des öffentlichen Diskurses wird. Homosexuelle beider Geschlechter beginnen, sich zu ihrer sexuellen Präferenz zu bekennen; der Ehebruch, ein bisher sorgsam ausgespartes Thema, zeigt in den Leserbriefseiten seine weite Verbreitung, und selbst Inzest, Sodomie und sexuelle Gewalt werden hinter der Wand des Schweigens hervorgeholt. Vergewaltigungen gehören heute zu den Standardszenen der Filmindustrie.

Auch die gedruckten Medien haben den Sex entdeckt. Indiens Joan-Collins-Klon hat in einer Serie von Bestsellern aus Bombay einen Pornopfuhl gemacht. Während sich die sexuelle Imagination noch vor zwei Jahren in Filmmagazinen verstecken mußte, gibt es heute schon ein halbes Dutzend Playboy-Kopien mit Titeln wie „Fantasy“, „Fun“ und „Chastity“. Einige ausfaltbare „Playmates“ verbergen zwar noch – als einziges – ihr Gesicht; sie halten ein kleines Hündchen an die nackte Brust und geben ihm die Flasche, oder sie betätigen sich, hüllenlos vor einer Lehmhütte stehend, an einem archaischen Butterfaß. Aber die Leserbriefseiten und der „Gute Rat des Arztes“ zeichnen ein offenes und verwirrendes Bild sexueller Ängste und Hoffnungen – und des Staunens, sich darüber so offen äußern zu können. Viele dieser Publikationen sind Eintagsfliegen, und den Herausgebern steht die Angst vor dem Zensor ins Gesicht geschrieben: Jedes Impressum führt „beratende Rechtsanwälte“ auf, ein Editorial verbindet die Ablichtung einer jungen Dame in der freien Natur scheinheilig mit dem Appell an die Leser, „durch die Liebe zur Natur unsere Umwelt zu retten“. Die Lebensgeschichte des Dichters Paul Verlaine muß dafür herhalten, daß sexuelle Praktiken beim Namen genannt werden.

Die linkische Unverfrorenheit, mit der Magazine, Filme und Popmusik sexuelle Tabus anzusprechen wagen, kann aber auch als Zeichen interpretiert werden, daß die Prüderie nicht auf eigenem Boden gewachsen ist, sondern weitgehend ein Import des Islam und der christlichen Missionare war. Dies meint der Schriftsteller Anurag Mathur. Für ihn ist die „westliche“ Vermarktung des Frauenkörpers nur eine Seite der Medaille. In ihr sieht er auch die Rückkehr zu den Wurzeln einer ursprünglich lustvollen Gesellschaft, für welche das Kamasutra nur ein Beispiel ist: „Das alte Indien war sowohl schwedisch wie wissenschaftlich, sowohl spirituell wie zotig.“

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