: Torjäger unter sich
Kanadas Starteam erreicht durch ein mühseliges 3:2 gegen die Tschechen das Eishockey-WM-Halbfinale und trifft heute auf Schweden ■ Aus Mailand Matti Lieske
Wer George Kingston auf der Straße begegnet, würde nie auf die Idee kommen, daß es sich bei diesem distinguierten älteren Herren um einen Eishockeytrainer handelt. Der hagere Mann mit dem gepflegten Schnauzer wirkt wie eine Harvard-Version des derzeit mit seinen Lehren gescheiterten deutsch-tschechischen Eishockeyprofessors Ludek Bukac, und wenn Kingston den Mund öffnet, erwartet man unwillkürlich einen knochentrockenen Vortrag über elisabethanische Dichtkunst oder das Wirtschaftsrecht im römischen Reich der Konsulzeit. Statt dessen sagt er Dinge wie „Der gegnerische Torwart Petr Briza spielte ein großartiges Match“ oder „Wir freuen uns auf die Schweden“.
George Kingston ist Manager und Cheftrainer des kanadischen Eishockeyteams, das sich bei dieser Weltmeisterschaft in Italien fest vorgenommen hat, endlich an den letzten Titelgewinn von 1961 anzuknüpfen. Zu diesem Zweck ist Kingston schon vor Wochen bei jenen Teams der NHL hausieren gegangen, die möglicherweise den Play-off-Anschluß verpassen würden, und hat mit Engelszungen versucht, deren beste Torschützen zum Europa-Trip zu animieren.
In den vergangenen Jahren hatten die kanadischen Mannschaften zwar meist ein paar Aushängeschilder wie Eric Lindros, Steve Yzerman, Paul Coffee, Rick Tocchet und einmal sogar Wayne Gretzky dabei, waren aber ansonsten eher schwach besetzt. Diesmal ist es Kingston gelungen, ein homogenes Team zusammenzustellen, das praktisch nur aus Topscorern besteht, die fast alle mehr als 30 NHL-Tore geschossen haben.
Gerade mit dem Toreschießen hapert es aber noch ein bißchen, und ob sich die Kanadier tatsächlich auf die Schweden im Halbfinale freuen dürften, stand im Viertelfinalmatch gegen die Tschechen lange auf des Messers Schneide. Zwar kombinierten die Kanadier phasenweise so schnell und raffiniert, daß manchmal kein Tscheche mehr wußte, wo eigentlich der Puck war, aber im Abschluß wuchtete vor allem Jason Arnott die Scheibe immer wieder neben das Tor und machte deutlich, warum die Edmonton Oilers in diesem Jahr der schwächste Klub ihrer Division waren.
„Die meiste Zeit haben wir die Dinge getan, die wir tun wollten“, war Kingston dennoch zufrieden und schob die ganze Misere auf den überragenden Tschechen- Goalie Briza, der 42 Schüsse parierte. An diesem allein kann es jedoch kaum gelegen haben, schließlich begegnen Arnott und seine Mitstreiter auch in der NHL nicht gerade Stümpern im Tor. Immerhin trafen nach Strakas Führungstreffer in der fünften Minute Shanahan (13.) und Kariya (26.) zum 2:1, bevor die Kanadier ein peinliches Tor in Überzahl durch Kucera kassierten (28.). Als die Nervosität auf der kanadischen Bank schon beträchtlich stieg und das Hazardspiel des Sudden death immer näher rückte, schaffte Shayne Colson in der 58. Minute dann doch noch das Siegtor gegen die bestürzten Tschechen, deren Trainer Ivan Hlinka die Saison in einem Satz resümierte: „Es war kein gutes Jahr für das tschechische Eishockey.“
Heute spielen also im Halbfinale die USA gegen Finnland und die Kanadier gegen Schweden, jenes Team, das ihnen in Lillehammer per Penaltyschießen die Goldmedaille weggeschnappt hatte. Von einer Revanche will George Kingston jedoch nichts wissen. „Wenn man sich die Aufstellungen ansieht, sind es zwei völlig andere Mannschaften. Wir haben zum Beispiel nur noch einen Spieler von Lillehammer dabei.“
Dieser eine aber hat es in sich. Paul Kariya müßte sich im Kreise von NHL-Koryphäen wie Luc Robitaille (Los Angeles), Joe Sakic und Mike Ricci (Quebec), Pat Verbeek und Geoff Sanderson (Hartford), Nelson Emerson (Winnipeg), Steve Thomas (New York Islanders), Brendan Shanahan (St. Louis) oder Rod Brind' Amour (Philadelphia) eigentlich vorkommen wie College-Basketballer Christian Laettner 1992 im Dream Team von Barcelona. Doch anders als dieser begnügt sich der 20jährige mit den japanischen Vorfahren, der im olympischen Halbfinale die bis dahin souveränen Finnen düpierte, keineswegs mit einer Nebenrolle.
Mit Shanahan, dem Goalgetter der St. Louis Blues, und Arnott bildet er die gefährlichste Sturmreihe der Kanadier, die zusammen schon 21 Scorerpunkte erzielt hat. Mit seinem Tor und einem „assist“ im Viertelfinale setzte sich der flinke Kariya mit zehn Punkten sogar neben dem ausgeschiedenen Russen Waleri Kamenski an die Spitze der WM-Scorerliste. Auf den jungen Mann mit der großen Zukunft sollten die Schweden heute ganz besonders aufpassen. Schließlich ist er nicht nur brandgefährlich, sondern auch der einzige, der noch ein olympisches Hühnchen mit ihnen zu rupfen hat.
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