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Alle Posten sind besetzt

■ In den Körper geschrieben: Sergej Vasiljevs Fotos aus russischen Straflagern

„Köchin und Menschenfresser“, wie einstmals André Glucksmann sein berühmt-berüchtigtes Buch über „die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“ betitelte, sind keine Bildmotive, die die Haut der Einwohner der „Zone“ verzieren. Dagegen prangt die Ikone der Madonna mit dem Kind auf der mageren Männerbrust, auf dem Bizeps ergänzt um ein Pin-up mit derart spitzen Brüsten, daß man unweigerlich an die von Gaultier gestylten der anderen Madonna denkt.

Jungfrau und Hure, diese altbekannte dumpfe Doppeldarstellung der Frau im christlichen Kosmos, dürfte allerdings schon das einzige Bild sein, das sich beim Betrachten des Fotobandes von Sergej Vasiljev mit Fotografien aus den Straflagern Rußlands ohne weiteres entschlüsselt. Der westlich sozialisierten Betrachterin, vertraut mit der Ikonologie mehr oder minder modischer Tatoos, muten die Tätowierungen der Lagerhäftlinge, die Vasiljev seit 1988 fotografierte, einigermaßen bizarr an.

Ein Dolch, der bis zum Heft im Hals des Inhaftierten zu stecken scheint, verheißt der untreuen Frau Rache. Die Anzahl der Kuppeln der russisch-orthodoxen Kirchen, die den kriminellen Leib ihrer Gläubigen zieren, benennt die Jahre, die der Häftling zu verbüßen hat beziehungsweise seine Stellung in der Hierarchie der organisierten Kriminalität. Der bittere Witz ist in den Riten einer unerbittlich durch Gewalt regierten Gegengesellschaft der Gefangenen begründet, in denen sich die „normale“ Gesellschaft höhnisch widergespiegelt sieht. Politische Gefangene gibt es in Rußland seit 1991 nicht mehr, dennoch bestehen weiterhin 2.000 Arbeits- und Erziehungslager, in denen rund 600.000 Häftlinge interniert sind. Ihre Auflösung ist wenig wahrscheinlich, da kein alternativer Strafvollzug zur Verfügung steht.

Sergej Vasiljev, bis 1968 bei der Polizei, bevor er Fotokorrespondent der Tageszeitung Wetscherny Tscheljabinsk wurde, nähert sich dem Lager von außen, um seine Schichten und Geschichten langsam bis zum Kern freizulegen und im Innern noch einmal auf das Lager zu stoßen.

Der Raum der „Zone“ ist der Raum der staatlichen Kontrolle über die Utopie der sozialistischen Revolution: „Arbeits- und Besserungskolonien“ heißen die Lager noch heute, wo Utopie und imperiale Sowjetmacht gleichermaßen zusammengebrochen sind. Aber die Lager verfallen schon viel länger, das ist unschwer auf den Fotografien zu erkennen, die um so deutlicher zeigen, daß die Macht auf der Grenze des kaum noch vorhandenen Lagerzauns basiert, den hölzernen Wachtürmen, die ihn wackelig überragen. Alle Posten sind besetzt, und es ist leicht zu erkennen, daß die Tätowierung als symbolische Grenzüberschreitung und Normübertretung in Beziehung zu realen Grenzverletzungen steht, die mit dem gezielten Schuß auf den Flüchtigen geahndet und unmöglich gemacht wird.

Das System hält die Gefangenen auf Distanz in Schach. Sie sind von pädagogischen Parolen umstellt, aber Führungszeugnisse lassen sich kaufen. Der Terror im Innern wird von den Häftlingen selbst organisiert; sie bestimmen, wer arbeitet und wer nicht.

Die Hautbilder, die vom Leiden an einer repressiven Gesellschaft und ihren Zwängen erzählen wollen, müssen letztlich doch als Chiffren von Macht und Prestige des Trägers gelesen werden. Davon kann das Überleben im Lager abhängen. Die Gegenkultur des Tätowierens regiert das kriminelle Milieu: Tätowierungen werden im Lager vergeben wie außerhalb die Orden; „unverdiente“ Tätowierungen aus der Haut geschnitten. Vasiljev gelangen in den Lagern Bilder, deren eindrucksvolle Expressivität im schnellen, beiläufigen, aber informierten und konzentrierten Reportageschuß versachlicht und damit politisch, kritisch wird.

Brigitte Werneburg

Sergej Vasiljev: „Zone“. ex pose Verlag, Berlin. 88 Seiten, geb., zahlreiche S/W-Abb., 49 DM.

Weitere Fotos aus diesem Band auf den Seiten 13 bis 16 (Literataz).

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