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Wildnis Deutschland

Kalte Familienrituale in Christoph Brummes Debütroman einer ostdeutschen Jugend  ■ Von Hans-Joachim Neubauer

Am Anfang steht jedes Ding für sich, unverbunden, lose, wirklich. Noch ist nichts festgezurrt in Gründen und Geschichten. Später dann, wenn man zu den anderen gehört, sagt man dazu Kindheit. Die meisten sehnen sich zurück. „Nichts als das“, der erste Roman von Christoph Brumme, führt zurück in die freudlose Welt eines Jungen (den sein Autor sehr ernsthaft „No“ nennt), in ein Kaff im Harz, der deutschesten aller deutschen Landschaften, auf der östlichen Seite, irgendwann vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren.

In dieser Enge kreist alles um den einen, den Vater. Von ihm geht alle Macht aus, er hat das Sagen und beherrscht die Sprache, was der Roman von Beginn an zeigt: „Nos Vater trat an den Tisch. Nos Mutter blickte auf und sagte: Er will nicht lesen lernen. Du willst nicht lesen lernen? fragte Nos Vater. Das wäre doch gelacht. Lesen mußten wir alle lernen.“ Bei jedem Fehler boxt der Vater No „in die Seite, mit den Knöcheln der Faust unter die Rippen, dahin, wo es weich ist.“ Das Prügeln prägt die Schrift in den Körper.

Sprache und Strafe durchziehen das ganze kurze Buch. Der Junge lauscht den Wörtern nach, der Vater vollzieht sachlich die elenden Rituale des Mächtigen: „Eine Tracht Prügel kam nicht aus heiterem Himmel. Sie begann mit einem Pfiff. Nos Vater pfiff. Das hieß: Herkommen!“ So lebt die Familie am Fuße des Brocken.

Zwei Landschaftsbilder legen sich aufeinander, verschieben sich, nie in Deckung zu bringen, notwendig unscharf: der Blocksberg des „Faust“ und der Grenzpunkt auf der Landkarte des Kalten Krieges, wohlbewacht, durchschnitten von Grenzanlagen. Ganz oben messen Meteorologen das Wetter aus, kein Ort mehr für Hexen. Wie Winnetou suchen der Junge und der Vater nach dem anderen Brocken, dem Berg hinter dem Berg, erschleichen, auf Deckung bedacht, ihre Seite des Gebirges. Der populäre Lesestoff Goethe ist immer nah und gaukelt den Bewohnern der Wildnis Deutschland in Zitattrümmern und Kalendersprüchen Sinn und Bildung vor. In der Küche, wo das kalte Ritual der Familie per Sitzordnung und Tischsitten inszeniert wird, hängt er an der Wand, direkt neben dem Klischeeklischee vom röhrenden Rothirschen und sagt, daß der Mensch edel sein soll und so. Im Blick des Jungen zerfällt dieser literarisch riskant kalkulierte Quadratkitsch in stille Bilder: „Wo konnte er hinsehen? Auf die Tapete vielleicht. Die Tapete war aus gelben Karos zusammengesetzt. Sie war picklig und glänzte vom Lack.“

Keine Zeit bringt hier mehr Rat. Es gibt kein Ganzes, nur dieses erregende Ineinander von Worten und Bildern, Gerüchen, Stimmungen und stillen Zimmern am Nachmittag. Über allem aber der Vater. Immer bleibt er sich treu, auch im Spiel als bergsteigender Indianer, und nur in Klammern darf der Sohn seinen Namen unter den des Vaters ins Gipfelbuch schreiben. Wenn der Vater mit dem Sohne, dann hat er das Sagen, was er genau weiß und auch in Szene setzt. „Soll ich dir beim Nachdenken helfen? Oder kommst du alleine drauf? No wußte nicht, worauf er kommen sollte. Manchmal wußte er das. Manchmal hatte er etwas getan, von dem er wußte, daß es sein Vater herausbekommen hatte.“ Man sieht die ganze Banalität des Bürgers mit den Augen des Sohnes, von unten und sehr genau. „Sein Vater legte ihm die Hand in den Nacken, zog ihn an sich, und das war eine Umarmung.“ Nos ganzes Leben ist auf den Vater fixiert: der eigene geschlagene Leib, jeder Punkt am Wegrand, Räume, Geräusche und Gerüche, alles ist besetzt von ihm, alles erzählt von ihm.

Väter sind Stellvertreter, und hinter diesem liegen Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, der Krieg. Der literarische Blick auf diesen Sohn seiner Zeit leuchtet die Abgründe aus, die die Geschichte Deutschlands vor der Teilung den beiden Hälften überließ, Seelenschrott, ein Erbe, das um so gruseliger wirkt, als es aus der klaren Sicht eines Kindes gezeigt wird. Nur Kinder können so genau gucken, und sie tun es. Trotz dieser radikalen Perspektive gerät die Figur des Vaters nicht zum Pappkameraden der Erzählung, und vergeblich wartet man auf die kulturstiftende Tat der Brüderhorde. Einmal nur, als wieder Prügel drohen, greift das schon herangewachsene Kind zum Beil, ganz nebenbei. Steht da, wartet. Mehr nicht, doch danach ist manches anders. Der Blick des Jungen verschiebt sich, zeigt feine Risse im monolithischen Brocken Vater, seine Feigheit, seine Mittelmäßigkeit, so daß er kleiner und wirklicher wird in seiner ganzen kümmerlichen Gewalt. Mitleid erregt er nicht. Vor den Augen seiner Kinder zieht der Vater sich um: „Sein Vater hatte einen Steifen. Er brachte den Schlafanzug in das Schlafzimmer, lief um den Tisch herum mit dem Steifen, auf dem Rückweg auch. Er griff nach dem Taschentuch, das unter dem Kissen lag, und schnaubte sich die Nase. Der Steife wippte dabei. Dann zog sein Vater sich das Unterhemd an, über den Steifen drüber. Der Steife rutschte unter dem Unterhemd wieder hervor. Erst der Schlüpfer verdeckte den Steifen. Unter dem Schlüpfer schob der Vater ihn zur Seite. Er zog sich Hemd und Hose und Strümpfe an und setzte sich zum Essen an den Tisch. No guckte nicht auf den Steifen seines Vaters, wenn der sich anzog, aber er sah den Steifen doch.“

Flüchten oder draufhalten? Der große Bruder haut ab, geht später ziemlich dynamisch als Offizier zur irgendwie modernen NVA. No ist dazu noch zu jung und träumt sich ins Freie, mit Stelzen über die Grenze oder einfach so weg, irgendwohin, ein Chingachkook der Wirklichkeit; er spinnt seine Geschichten: „Daß sein Vater bald Direktor werden würde, erzählte er, und daß er zu Hause tagelang nichts zu essen bekam.“

All das ist einfach da, eine karge, sehnsüchtig machende Welt, die soviel von Ganzdeutschland zeigt und von seinen Einwohnern, denn auch der Osten ist nur eine Antwort auf die Zeit, aus der der Vater kommt; das ist die eine, verzweifelt deutsche Geschichte. Um so absurder, daß die Feuilletons immer auf den „großen gesamtdeutschen“, geschichtsverdauenden Roman warten, als hätten sie das nicht begriffen. Christoph Brumme schert das wenig, er begründet nicht und löst nichts auf. Im strikten Nebeneinander seiner kurzen Sätze ist das parataktische „und“ die häufigste Konjunktion, sind Reihen und Wiederholungen die wichtigsten Stilfiguren. Das genügt und ist stärker als jeder Symbolismus, als alles Bedeutenwollen. Nur manchmal lugt der Autor listig zwischen den Zeilen durch und winkt mit dem Zaunpfahl: R. Mey singt im Radio Überdenwolkenlieder, und nicht nur die Hauptfigur ist bedeutungsschwanger benamt, sondern auch der Ort der Erzählung raunt von tieferen Bezügen. Er heißt schlicht „Elend“, und im Bücherschrank steht V. Hugos Roman „Die Elenden“ – weniger dick hätte man's auch begriffen.

Aber sonst hält sich dieses Buch zurück, verschließt sich in seiner undramatischen, ernsten und sehr protestantischen Stille. Ruhig blickt der Junge auf die Leute und auf das Land, das da liegt, ohne Wärme und ganz deutsch, nichts als das. Aus solcher Kindheit flöhe jeder gern; vor dieser Heimat auch.

Christoph D. Brumme: „Nichts als das“. Roman. Verlag Mathias Gatza, 193 Seiten, geb., 29,80 DM

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