: Ellipsen und Epilepsien
Eine Stilettostiefel-Tänzerin in Fetischgummi, ein recht kräftiger Pas-de-deux-Tänzer und jede Menge Ellipsen: „Neuer Tanz“ nach Art der Lyoner Choreografin Wanda Golonka wird dem deutschen Tanztheater den Weg weisen ■ Von Arnd Wesemann
Bei Pina Bausch lernen und nicht ihre Epigonin werden: ein Traum. Weder Susanne Linke noch all die vielen Tanztheater, die überall im Lande um ihr Leben kämpfen, können auf die Sturheit und Eigenständigkeit pochen, auf das Geradeaus der aus Lyon stammenden Wanda Golonka. Ihre Düsseldorfer Gruppe „Neuer Tanz“ mit ihrem Partner, dem Künstler VA Wölfl, bilden derzeit das eigenständigste, intelligenteste und unbestechlichste Tanztheater in Deutschland – vor Kresnik, Hoffmann, King. Zur jüngsten Premiere von „Elepsie ... die Künstler sind anwesend“, bleibt der Blick des Publikums konzentriert, wendet sich nie ab; man langweilt sich nie, gähnt nie, sondern wird: wacher und wacher.
Eine Stilettostiefel-Tänzerin in Fetischgummi, eine Springinsfeld- Tänzerin mit vier Rädern am Rücken, eine Fallsucht-Tänzerin, die einen Stuhl in der ersten Publikumsreihe besteigt und sich ungebremst auf drei „Zuschauer“ fallen läßt. Ein kräftiger Pas-de-deux- Tänzer, der seine Partnerin am Schenkel greift und sie wie eine Trophäe kopfüber in der Luft hält. Zwei Taschenlampen-in-der-Hose-Tänzer, die mit Licht Ellipsen in den dunklen Raum zeichnen.
Ellipse: Um zwei feste Punkte wird eine Fadenschlinge in gespanntem Zustand mittels einer Kreide bewegt; die Kreide beschreibt eine Ellipse. So steht es im Lehrbuch. Eine Ballettelevin im Tütü, sehr jung, nimmt Hammer und zwei Nägel, spannt die Fadenschlinge und zeichnet eine gewaltige Ellipse auf den Boden. Die Tänzerformation, die exakt entlang der Grenzen dieser Ellipse in rechtwinkligen Bewegungen tanzt, gerät automatisch in Unordnung. Angewandte Ballettmathematik. Über der gemalten Ellipse hängt eine ebenso gewaltige, ebenfalls elliptische Gardinenschiene. Sie trägt den Vorhang, der den Blick mal verdeckt, mal freigibt. Ein wie ein Lasso geschwungenes Mikrofon produziert Sturmgeräusche, die sich durch preußische Grenadiertrommeln zu einem musikalischen Furioso steigern. Eine wie ein Lasso geschwungene Lampe blendet und hinterläßt im betrachtenden Auge ellipsenförmige Lichtspuren. Zu „Ellipse“ assoziieren Golonka und Wölfl „Epilepsie“: Anfälle, die mit Krämpfen, Bewußtlosigkeit, Zungenbiß, Schaum vor dem Mund und Einnässen verbunden sind; eine dysfunktionale Muskelarbeit von höchster Intensität, eigentlicher Tanz. Auch das steht so im Lehrbuch.
Ellipse meint zugleich: Weglassen eines aus dem Sinnzusammenhang leicht zu ergänzenden, minder wichtigen Wortes. Also Konzentration auf das Wesentliche. Wanda Golonka: „Licht und Ton und Tanz, das muß alles so gut sein, daß jedes auch für sich allein stehen kann.“ Das Licht stammt von zwei Filmprojektoren, die einander beleuchten. Der Ton stammt von Trommeln und einem simplen Autoradio. Was überflüssig ist, wird gestrichen. Über die seit 1986 bestehende enge Zusammenarbeit zwischen Golonka und Wölfl im Marstall des Schlosses Benrath bei Düsseldorf sagt VA Wölfl: „Ich prüfe Wandas Arbeit. Und nehme ihr alles weg, was stört. Wanda prüft meine Arbeit, und nimmt mir alles weg. Was bleibt, ist reine Essenz.“ So wie einst Beckett die Handlung in seinen Dramen reduzierte, bis der fast völlige Stillstand auf der Bühne eine neue dramatische Qualität produzierte. Nicht Darstellung, nicht Nachahmung.
„Neuer Tanz“, der soeben im tanzengagierten Frankfurter Mousonturm Premiere hatte, schwingt sich weiter auf; über die Ellipsen hinweg zu konzeptueller Tanzkunst: Aus dem Autoradio strömen Funkcolleg, Nachrichten, Jazz, bayerische Volksmusik, Zufallsfunde. Es wird nicht zur Musik oder zu den Nachrichten getanzt, die Tanzschritte sind vorher festgelegt. Trotzdem erscheint der Tanz meist synchron zum Gesendeten: Jeder Nachrichtensprecher und jeder Schlagersänger unterwirft sich einheitlichen rhythmischen Gesetzen der Radiophonie. Die Gleichschaltung des akustischen Materials nennt der Rundfunk euphemistisch eigene „Farbgebung“. Hier wird sie als mattes Unisono entlarvt. Und nochmal entlarvt. Und nochmal. So überläßt sich das Publikum allmählich einer frei schwebenden Aufmerksamkeit, erholt sich, wendet sich trotz der Dauer nicht ab, langweilt sich nicht, gähnt nicht, sondern wird – paradox – immer wacher. Ein Nebenbei-Triumph des „Neuen Tanz“ über den modischen Minimalismus.
An den spaziergehwürdigen Rheinauen in Düsseldorf-Benrath, im Marstall des dortigen Schlosses (unweit eines köstlichen Cafés) vom 26. bis 29. Mai, 10. bis 12. und 17. bis 19. Juni um 20 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen