: 70 Kilo Plutonium dringend gesucht
■ Der Stoff, aus dem die Bombe ist, verschwindet aus der japanischen Atomfabrik Tokaimura
Tokio (taz) – Internationale Atomingenieure suchen 70 Kilo verschwundenes Plutonium. Das Material ist bei der Herstellung von Plutonium-Brennelementen für Atomreaktoren in Japan in den vergangenen fünf Jahren abhanden gekommen. Es reicht für die Herstellung von neun Nagasaki-Bomben.
Bei dem Plutonium handelt es sich um nicht mehr auffindbares Material – in der Fachsprache „material unaccounted for“ genannt –, dessen Verbleib in Plutoniumanlagen rund um die Welt den Atomexperten seit Jahren Rätsel aufgibt. Tatsächlich entstehen sowohl bei der Plutonium- Brennelementeherstellung und beim Betrieb von Wiederaufarbeitungsanlagen für Plutonium ungezählte Restmengen des Bombenrohstoffs, deren Verbleib im Inneren der Anlage niemand garantieren kann. In der japanischen Brennelementefabrik von Tokaimura, nördlich von Tokio, ist nun der lang befürchtete Präzedenzfall eingetreten: Die Beobachter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) mußten während einer Routinekontrolle im April den Schwund von 70 Kilogramm Plutonium feststellen.
Der Sprecher der IAEO, David Kyd, betonte gestern in Wien, daß derzeit bereits eine Sonderprüfung durch Spezialisten der Behörde in Tokaimura stattfinde, die den Verbleib des Plutoniums klären soll. Nach Vermutungen der japanischen Betreiber befinden sich die 70 Kilo in Form von Restbeständen in den umfangreichen Rohrleitungssystemen der Brennelementefabrik. Mit den verfügbaren Meßgeräten, die eine Fehlerquote von fünf bis zehn Prozent aufweisen, läßt sich das Plutonium nicht aufspüren.
Die Informationen über den Verlust des hochgefährlichen Bombenstoffes waren jedoch erst über das private Washingtoner Institut für atomare Kontrolle (NCI) an die internationale Öffentlichkeit gelangt. Die Atomkritiker hatten die Schließung der japanischen Brennelementefabrik in einem Brief an US-Außenminister Warren Christopher gefordert, nachdem sie offenbar aus Kreisen der IAEO unterrichtet wurden. Der renommierte amerikanische Atomexperte Paul Leventhal bezeichnete die vermißten 70 Kilo als „höchst erstaunliche Zahl“. Der Pressesprecher des Washingtoner Außenministeriums, David Johnson, erklärte, die USA seien über den Vorgang besorgt und verfolgten die Lage. Doch zeigte sich Johnson zuversichtlich, daß das Problem zwischen Japan und der IAEO geklärt werden könne.
Gerade das bezweifelten gestern unabhängige Experten. „Das fehlende Plutonium läßt sich mit aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr nachweisen, es sei denn, die gesamte Fabrikanlage würde eingeschmolzen“, betonte Mycle Schneider, Leiter des Pariser WISE-Instituts. Auf das bisher unlösbare Problem von nicht nachweisbaren Plutoniumrückständen hatte im Jahr 1990 Marvin Miller vom Massachusetts Institute of Technology hingewiesen. Miller errechnete, daß die Meßgeräte für Plutoniumverluste in Wiederaufarbeitungsanlagen und Brennelementefabriken so ungenau seien, daß sich aus einer herkömmlichen WAA bis zu 250 Kilo Plutonium im Jahr ohne Kenntnis der Kontrolleure entfernen ließen. Millers Schlußfolgerung: Solange keine genaueren Meßgeräte zum Einsatz kommen, „wäre es vorsichtig, den Gebrauch von Plutonium auf Forschungszwecke einzuschränken“. Georg Blume
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen