Zwischen den Rillen: Sounds like Alterswerk
■ Blues als Konzept im Koordinatensystem der Zeit: „Experimental Jet Set, Trash and No Star“ von Sonic Youth
Als hätten sie gewußt, was sie nicht wissen konnten. Ein Blues- Album von Sonic Youth gibt den Soundtrack ab zu einer Zeit, in der Rockstars wieder ihrem Leben ein Ende setzen und Rock nicht mehr das fröhliche Wiederaufnehmen längst entwerteter Symbolik bedeuten soll. Man kann ihnen seit ihrem Wechsel zur Industrie vieles vorwerfen – die offensiv ausgefüllte Rolle als Vorreiter der neuen Gitarrensolidität wie ihre Vermittlerrolle für den sich ausverkaufenden Underground. Aber immerhin beweisen sie, daß Erfolg überlebbar ist. Und finden nebenbei die richtigen Töne zur Lage. Als hätten sie geahnt, daß – während sie „Experimental Jet Set, Trash and No Star“ aufnahmen – eine völlige Umorientierung des socalled Underground stattfand. Die Platte beginnt mit dem „Winner's Blues“ und mit Zeilen, die für Kurt Cobain geschrieben sein könnten: „The time has come and you will see a door.“
Klarerweise ist der Blues hier nicht der klassische Zwölftakter, sondern unbehauener allererster Gedanke. Auf „Experimental Jet Set...“ findet die Versöhnung zwischen den rüden Versuchen ihrer Frühzeit und dem popwilligen Songwriting der Zuletztzeit statt. Allerdings suchten und fanden sie Elemente, die man so kombiniert nicht bei einer über die Maßen erfolgreichen Rockband erwartet hätte. Und wenn die vier wieder zurückkehren zu ihren Anfängen, dann auf wesentlich niedrigerem Geräuschpegel. Übrig bleibt das plötzliche Abbrechen eines Stückes, das assoziative Hinübergleiten in ein neues Thema. Was verlorengeht, sind bis auf wenige Momente die Gitarrenattacken, wegen derer Sonic Youth nicht zuletzt das wurden, was sie sind. Übernommen aus ihrer finanziell wohl erfolgreicheren Zeit wird vor allem der Sound der damals – im Vergleich zum Rest der Platten – aus dem Rahmen fallenden ruhigeren Stücke. So entfaltet „Experimental Jet Set...“ beim durchgehenden Hören im Sonic-Youth- Koordinatensystem eine Relaxtheit, die J.J. Cale den Schlaf in die Augen treiben könnte. Wenn Thurston Moore von „Self-Obsessed And Sexxee“ erzählt, wird es keine hysterische Charles- Manson-Huldigung mit in sich zusammenkrachenden Gitarrenwänden mehr, sondern eine gut abgehangene Ballade, fast der klassische Song, möglicherweise hitverwertbar. Und Kim Gordons „Sweet Shine“ ließe sich auch von Suzanne Vega covern. Hört sich nach reifem Alterswerk an und nur wunderschön.
So ist „Experimental Jet Set...“ fast ein Konzept-Album geworden, indem es sich radikal vom bisher angehäuften Forschungsstand Sonic Youth abwendet, zugleich aber sämtliche bisher benutzten Versatzstücke wiederverwendet. Aber auch wenn diese scheinbar so anarchische Unüberlegtheit wohlüberlegt ist, fehlt doch zumindest eine der Grundvoraussetzungen für Konzept-Alben: Die Botschaft, die man zugegebenermaßen nicht von einer sperrigen Band wie Sonic Youth hätte erwarten dürfen. So füllen sie weiter die Zeilen mit den vielen kleinen Mitteilungen aus Alpträumen, alten Filmen und alten Freundschaften, wie sie es schon immer getan haben.
Was ihnen damit gelingt, ist – ungewollt oder nicht – das Album zum Zeitgeist, ohne sich ausdrücklich auf diesen zu beziehen. Diese seit 1981 bewiesenen außerordentlichen Schnupperqualitäten dürften ihnen wieder mal die beliebten neidvollen Vorwürfe einbringen, aber inzwischen befinden sich Sonic Youth fast schon in einer den Rolling Stones vergleichbaren Situation: „It's only Rock 'n' Roll“ und wir sorgen selbst dafür, daß wir ihn auch weiterhin mögen. Thomas Winkler
Sonic Youth: „Experimental Jet Set, Trash and No Star“, Geffen
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