: Die Geburt eines Trends
Gebären zu Hause: Einstmals die Regel, unter den Nazis propagiert, im Wirtschaftswunder- land verpönt, heute wieder in / Hausgeburten entlasten Krankenkassen, doch Hebammen verdienen viel zuwenig Geld ■ Von Renate Reddemann und Richard Laufner
Der große grüne Gymnastikball ist längst in die Ecke gerollt, das Badewannenwasser erkaltet. In der sanierten Altbauwohnung riecht es noch leicht nach Himbeerblättertee. Eva, 31jährige Erzieherin, hat erstmals ihr Hausgeburtskind Mirko zum Stillen angelegt. Überwältigt-entspannt. Die fünfjährige Tochter Miriam, die sich während der lautstarken Preßwehen etwas verschreckt verzogen hatte, turnt überdreht um sie herum. Der verspätet eingetroffene Arzt ist bereits wieder weggefahren. Die Hebamme erledigt noch die Formalitäten. Eine Hausgeburt 1994 – unspektakulär. Eine von vielleicht 8.000 (etwa ein Prozent) in Deutschland pro Jahr, eine offizielle Statistik gibt es seit 1981 nicht mehr.
Merkwürdig: In der öffentlichen Gesundheitsdebatte ist es um Alternativen zur Klinikgeburt recht still geworden. Frauen- und Gesundheitsbewegung hatten vor 15 Jahren den ersten Anstoß gegeben, die übertechnisierte und -medikalisierte Klinikgeburt in Frage zu stellen. Das feministische Plädoyer für Hausgeburten hatte dabei mit fast muttermythischem Frauenpower-Gestus den Frauen beim Betreten des Neulands Mut zu machen versucht.
Sind die frauen- und gesundheitsbewegten Hausgeburt-Pionierinnen von einst dem Thema schlicht altersmäßig entwachsen? Hat der Risikovorwurf der Gynäkologenzunft verfangen, oder ist an die Stelle der großen Debatten ein leiser Pragmatismus getreten?
Zwei Entwicklungen sprechen für eine neue gesundheitspolitische Debatte über Geburten: Der weiter wachsende Wunsch nach selbstbestimmten Alternativen zur Klinik jenseits von Exotismus und „Bewegungsmythen“. Und der Zwang zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen, der Reformkräfte auch innerhalb der Krankenkassen und Gesundheitsministerien wecken könnte. Wohlgemerkt: könnte.
„Haus-, Praxis- und Geburtshausgeburt sowie Kliniksgeburt stehen mit ihren speziellen Vor- und Nachteilen gleichberechtigt nebeneinander“, erklärt Isolde Brandstädter, Hebamme und Präsidentin des „Bundes Deutscher Hebammen“, in dem knapp 10.000 der 12.000 deutschen Hebammen organisiert sind. Vertraute Umgebung, intensive Vorbereitung, weniger Schmerzmittel und Dammschnitte sind für sie wichtige Vorteile von Geburten außerhalb der Klinik.
Prof. Dietrich Berg, Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, packt dagegen „Erschrecken und Bestürzung“, wenn er die Plädoyers für Hausgeburten vernimmt. „Hier werden verständliche Wünsche der Mütter nach ihrer Entbindung in besonders angenehmer Atmosphäre durchgesetzt – ohne Rücksicht auf die Interessen des Kindes, das sich dagegen nicht wehren kann“, erklärt der Frauenarzt am Städtischen Marienkrankenhaus in Amberg, der seit Jahren mit messianischem Eifer gegen die angeblich höheren Risiken von Hausgeburten polemisiert.
Die Mär vom größeren Risiko bei Hausgeburten
Risiko – bei Professor Berg und 80 bis 90 Prozent der Gynäkologenzunft ein Kampfbegriff gegen Hausgeburten. Für Verbandssprecher Berg eine verkehrte Welt: Gerade die intellektuellen Großstadtkreise, in denen die Sicherheitsbedürfnisse gegenüber Umweltbedrohungen „fast groteske Züge“ angenommen hätten, sympathisierten mit Alternativen zu Klinikgeburten und ignorierten die Sicherheit ihres eigenen Nachwuchses. Dabei habe neben medizinischem Fortschritt doch erst das Zurückdrängen der Hausgeburten Deutschland in der perinatalen Sicherheitsrangliste weltweit auf einen der vordersten Plätze klettern lassen.
Solche Behauptungen haben der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und ihrem Schriftführer schon böse Briefe beschert. Von der Weltgesundheitsorganisation WHO aus Kopenhagen traf ein geharnischter Brief ein: „Untauglich“ seien die Stellungnahmen von Berg & Co. zu den Risiken von Geburten. Nach einer sorgfältigen Analyse der Fachliteratur weltweit sei die WHO zum Schluß gekommen: „Es gibt keinen wissenschaftlichen Anhaltspunkt, der belegt, daß eine geplante Hausgeburt für eine Frau, die eine normale Schwangerschaft hatte, gefährlicher als eine Klinikgeburt ist.“ Durchschrift an das Bonner Gesundheitsministerium.
Das hatte Marjorie Tew, Medizinstatistikerin in der Abteilung für Öffentliche Gesundheit der Universität Nottingham, schon Mitte der siebziger Jahre zum eigenen Erstaunen herausgefunden. Durch statistische Routineverfahren ließ sich die weitgehend akzeptierte Hypothese nicht stützen, derzufolge die Hospitalisierung von Geburten Ursache für die geringere Sterblichkeit von Müttern und Kindern sei. Verantwortlich für größere Sicherheit seien vermutlich die Verbesserung von Vorsorge, sozialen Verhältnissen und Bildung. Eine unbequeme Erkenntnis; Marjorie Tews Arbeitsvertrag wurde nicht verlängert, die Geburtsforschung führte sie nun in ihrer Freizeit durch. Wegen der fast totalen Hospitalisierung der Geburten wurden in England ähnlich wie hierzulande statistischen Vergleichen zwischen Haus- und Klinikgeburten die Grundlage entzogen. Anders in Holland, wo sich als einzigem wirtschaftlich entwickelten Land die Hausgeburtenrate bis heute bei 34 Prozent gehalten hat. Die Sicherheitsqualität allerdings hält den Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern sehr wohl aus.
Nicht nur das. Zusammen mit der holländischen Ärztin Sonja M. I. Damstra-Wijmenga präsentierte Marjorie Tew nach Analyse der nationalen holländischen Perinatalstatistik für das Jahr 1986 neben einer Bestätigung der britischen Ergebnisse noch weitere statistische Überraschungen: Die Mortalität unter der nicht eingreifenden Betreuung von Hebammen war signifikant geringer als unter dem eingreifenden Management von Ärzten für Geburtshilfe, und das unabhängig vom vorhergesagten Risiko der Geburt. Kein schmeichelhaftes Ergebnis für die Gynäkologenzunft.
Solche Ermutigung für HausgeburtenbefürworterInnen kommen mittlerweile nicht nur aus Holland, wo Hebammen seit Jahrzehnten eine wesentlich größere Kompetenz zugestanden wird – etwa das Exklusivrecht auf Vorsorge, über das auch Krankenkassen schon aus Kostengründen wachen. „A birth of a trend“ titelte im letzten Sommer der britische Guardian einen Doppelseiter über ein Hausgeburtsrevival auf der Insel. Eine Verdopplung der Hausgeburtenzahl, mittlerweile über 55 Gruppen innerhalb der „Society to Support Home Confinement“, die Frauen bei Hausgeburten unterstützen, eine regelrechte Aufbruchstimmung gegen die traditionelle Geburtsmedizin: der Trend läuft. Schon der vom Parlament in Auftrag gegebene „Winterton Report“ hatte 1992 bestätigt, daß die seit 1970 geltende staatliche Direktive der Hospitalisierung von Geburten „sicherheitspolitisch“ nicht begründbar sei. Im Herbst 93 setzte ein weiterer Regierungsreport noch eins drauf: „A manifesto for maternity into the next century“ – mit diesen für britische Verhältnisse geradezu pathetischen Worten stellte der Sprecher des Gesundheitsdepartments die politischen Initiativen für sanftere Geburten und größere Wahlmöglichkeiten der Frauen vor. Der Wandel in der offiziellen Politik werde die Hausgeburtenrate deutlich ansteigen lassen, kommentierte die Presse. Happy homebirthday!
Regierungsamtliche Plädoyers für mehr Wahlmöglichkeiten stehen hierzulande noch aus. Geburtspolitische Festlegungen hatten in Deutschland allerdings ideologische Gründe. Die Bevorzugung von Hausgeburten war einst hochoffizielle Nazi-Politik.
Noch um die Jahrhundertwende machten Hausgeburten weit über 90 Prozent aus. In „Anstaltsgeburten“ dagegen brachten fast nur unverheiratete Frauen aus schlechtesten sozialen Verhältnissen ihre Kinder zur Welt. Bis 1933 war die Zahl der Klinikgeburten mit deutlichem Stadt-Land-Gefälle auf 16 Prozent angewachsen (Berlin 62 Prozent). Für die Proletarierfrauen in den Städten, die zu Hause nur unter miserabelsten räumlichen, hygienischen und psychischen Bedingungen entbinden konnten, stellte die Möglichkeit einer Kliniksgeburt eine soziale Errungenschaft dar. Mit dem Fortschritt der Geburtsmedizin verlor sie für die bürgerlichen Frauen das Armenhausimage und wurde zum Zeichen für Modernität. Solche Trends paßten den Nazis aus finanziellen und ideologischen Gründen nicht ins Konzept. Propagandist Karl August Gerhardi im Olympiajahr 1936: „Zum Heroismus gehört Opferwilligkeit, beim Manne die Bereitschaft, Leben einzusetzen, bei der Frau die Bereitschaft, Leben zu gebären. Wenn diese zwei Millionen Geburten jährlich, die zur Erhaltung des Volksbestandes notwendig sind, alle in der Anstalt vor sich gehen sollten, dann sind wir vom Germanentum zum Kommunismus herabgesunken.“
In der Nachkriegszeit wurde die Hospitalisierung aus sozialen und medizinischen Gründen gesundheitspolitisches Programm beider deutscher Staaten. Werdende Mütter waren in der Regel froh, wenn sie zur Geburt dem Familienstreß entfliehen konnten. Mitte der siebziger Jahre war dieser Prozeß so gut wie abgeschlossen. Just der Zeitpunkt, als Frauengruppen erste Kritik anmeldeten, aus Frankreich und England Frédérick Leboyer, Michel Odent sowie Sheila Kitzinger mit ihren Plädoyers für sanfte und natürliche Geburten begierig rezipiert wurden. Nachdem die Nazis die Klinikgeburt einst im Geiste von Volksgemeinschaft und mütterlichem Opfermythos bekämpft hatten, wurde diese nach ihrem Siegeszug nun unter ganz anderen Bedingungen „postmodern“ in Frage gestellt.
Hauptproblem beim Wunsch nach Alternativen zur Kliniksgeburt: der Mangel an freiberuflichen Hebammen, die Hausgeburten betreuen. Die Zustände in den Kliniken aber lassen nicht nur immer mehr Schwangere – oft Frauen aus medizinischen Berufen – über Alternativen nachdenken. Ein regelrechtes „Burnout-Syndrom“ gibt es mittlerweile bei Hebammen. Der hierarchische Hi-Tech- Betrieb und das Kompetenzgerangel mit den Ärzten läßt „ehemals hochmotivierte, engagierte Mitarbeiterinnen zu gleichgültigen, zynischen und abgestumpften Wesen“ werden, wie die Marburger Diplompsychologin Birgit Reime in einer empirischen Studie herausfand. Immer mehr wagen deshalb den Schritt in die freiberufliche Arbeit. In der Trendsetterstadt Berlin verdoppelte sich die Zahl der außerklinischen Geburten zwischen 1985 und 1990 von 1,7 Prozent auf 3,3 Prozent. „Dort, wo freiberufliche Hebammen sich niederlassen, nehmen auch Hausgeburten zu“, weiß Johanna Frühauf vom 1984 gegründeten „Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands“.
Hebammen sind hoffnungslos unterbezahlt
Aber die „Klinikflucht“ von desillusionierten Hebammen hat ihre wirtschaftlichen Grenzen. Mitte November stellte der Bund Deutscher Hebammen im Beisein von Seehofers Staatssekretärin Sabine Bergmann-Pohl das „Emsland- Projekt“ vor, ein Modellprojekt ambulanter Hebammenhilfe. Ein Ergebnis, das die Gesundheitspolitiker aufhorchen ließ: Durch den erweiterten Aufgabenbereich der Hebammen ließen sich auch erhebliche Kosten einsparen. Die Staatssekretärin mußte sich allerdings auch das soziale Klagelied der Hebammen anhören: Bei einem Hebammen-Hausbesuch in der Schwangerschaft zu 37 DM pro Stunde und einer manchmal bis zu 13stündigen Hausgeburt à 245 DM kommen freiberufliche Hebammen nur bei einer 60-Stunden-Woche und bei Verzicht auf Urlaub auf ein Monatsgehalt von 2.000 bis 2.500 DM netto. Da fällt der Schritt von der Klinikanstellung in die freiberufliche Existenz nicht leicht.
In Kliniken betragen die Geburtskosten bei Tagessätzen bis zu 750 DM, einer Dammschnittrate von 70 Prozent und einer Kaiserschnittrate von knapp 20 Prozent zwischen 2.500 und 4.500 DM. Das ist ein Mehrfaches der Kosten von Geburten zu Hause oder in einem der seit Mitte der achtziger Jahre bestehenden 26 Geburtshäuser oder privaten Entbindungsheime. Das Gesundheitsministerium will den Hebammen nun eine durchschnittliche Erhöhung der Gebührenordnung von 10 Prozent bescheren. Johanna Frühauf, Diplompolitologin und als freiberufliche Hebamme selbst betroffen: „Ohne eine strukturelle Veränderung stagniert der Beruf und entwickelt sich nicht so weiter, wie es gesundheitspolitisch wünschenswert wäre und offiziell auch propagiert wird: als flächendeckende Versorgung.“
Auch die Krankenkassen müßten umdenken: Die Gießener Krankenkassen konnten nach jahrelangem Streit mit dem privaten Entbindungsheim in Gießen/Rödgen erst durch ein Urteil des Landessozialgerichts dazu verpflichtet werden, die Pflegesätze für stationäre Aufenthalte zu zahlen. Dabei betragen die nicht mal ein Drittel der Krankenhauskosten. Das Argument der Kassen: Bei dem ausreichenden Klinikbettenangebot gebe es keinen Bedarf an zusätzlichen Angeboten.
Unter solchen Bedingungen können Geburten zu Hause oder in Geburtshäusern ihr Exotenimage kaum verlieren. Holland zeigt, daß es anders, mit größeren Wahlmöglichkeiten und geringeren Kosten, geht. „Die Berufsverbände stehen auch bei uns schon mit Konzepten in den Startlöchern“, erklärt Johanna Frühauf. In Hessen werden auf Betreiben von Hebammenverbänden und der grünen Gesundheitsministerin seit neuestem Hausgeburten systematisch statistisch erfaßt und auf Qualitätssicherung geprüft.
Wie England zeigt, ein sinnvoller Schritt zur Beseitigung von Verunsicherung und ideologischem Nebel. Eine Studie aus dem Kanton Zürich untersuchte zwei Gruppen von je 214 Schwangeren, die sich in Alter, Gesundheit, Kinderzahl und Sozialstatus glichen, ihre Kinder aber teils zu Hause, teils in der Klinik zur Welt brachten. 52 Prozent der „Hausgeburtsfrauen“ sahen in der Geburt das „großartigste Erlebnis“, das sie je gehabt hatten; bei den „Kliniksfrauen“ waren es acht Prozent weniger. Von letzteren glaubten 48 Prozent, daß die Geburt ihre Leistung gewesen sei. Bei den Frauen, die ihr Kind zu Hause bekamen, war dieser Wert mit 70 Prozent deutlich höher. Risiken bei der Geburt, Gewicht und Gesundheit der Neugeborenen wiesen gleiche Werte auf. Aus dem sicherheitsliebenden südlichen Nachbarland also ähnliche Signale wie aus dem Nordwesten. Auch bei deutschen Geburten – Grenzüberschreitungen lohnen allemal.
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