: Unterm Strich
Das milde Klima dieser Frühlingstage – wir stehen nicht an, es herrlich zu nennen – ist dem Geistesleben äußerst zuträglich. Unter heftigen Testosteron-Attacken läuft vor allem die männliche Welt zu schöpferischer Höchstform auf. Nie wird es so deutlich wie in diesen Tagen, in denen die Wissenschaften und die Künste einen im Winter noch ungeahnten Aufschwung nehmen, daß alle Kultur durch Triebsublimation entsteht. Täglich erreichen uns nun Stapel von Gedichten von jungen Männern, die ihre Meinungen zu Rudolf Scharping in Verse gefaßt haben. Freilich ist es auch nicht gut, wenn einer gleich den ganzen schönen Trieb in seine Kunst umleitet, wie es bei dem von geschmackssicherer Bischofshand an der Amtsausübung zeitweilig verhinderten Priester Eugen Drewermann der Fall ist. Er geht wieder auf Tour; derzeit nimmt er am Internationalen Hermann-Hesse-Kolloquium im Calw teil und läßt mit steinhart erigiertem Zeigefinger hirnerweichende Sätze wie den folgenden aufs Publikum los: „Nicht länger der erhobene Zeigefinger ist der Wegweiser für das Leben, sondern die ausgestreckte Hand.“
Der Wegweiser zum Geheimnis des Drewermannschen Erfolges bleibt aber der Zeigefinger, der an deine Stirn tippt. Wenn man sich die immer noch wachsende Gemeinde dieses Edelschwätzers anschaut, kann man glatt ins Zweifeln geraten über den folgenden Satz eines anderen Erfolgs-Predigers: „Jeder Mensch kann denken. Gott hat sie mit einem Gehirn geboren.“ So spricht Robert Schuller, ein TV- Missionar aus den USA, dessen Deutschlandtournee die des Kollegen Drewermann ziemlich deklassieren könnte. Seine Sprüche sind einfach noch besser, wie sich bei einem Auftritt in Wiesbaden zeigte: „Das Geheimnis des Erfolges ist: Finden Sie ein Bedürfnis, und füllen Sie es aus.“ Tja, schon passiert: Die Tickermeldung mit Herrn Schuller liegt zerknüllt am Boden.
Vom „Papst der Motivation“ (Eigenwerbung Schuller) zum Erzbischof der Identität: Der amerikanische Jugendpsychologe Erik Erikson ist am Donnerstag im Alter von 91 Jahren gestorben. Erik Homburger Erikson, 1902 in Frankfurt geboren, wurde in Wien ausgebildet und wanderte 1933 in die USA aus. Er war ein Schüler von Anna Freud und wurde einer der ersten Kinderpsychologen. Erikson war von 1951 bis 1960 Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley und folgte 1960 einem Ruf an die Harvard-Universität. Und nun, taz-Leser, junger Spund, wird's interessant für Dich: Er befaßte sich ausführlich mit dem Problem der Identitätsfindung des jungen Menschen. Nach Eriksons Theorie ist das Leben aufgeteilt in acht entscheidende Phasen. Die schwerste Krise durchlebt der heranwachsende Mensch, der „in diesem Alter eine Identität für sein ganzes Leben finden muß“. Und, wie sieht's aus, so identitätstechnisch? Immer noch nichts? Na, dann aber hopp!
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