Trend zurück zur Rassentrennung

Heute vor 40 Jahren erklärte das höchste Gericht der USA die Trennung an Schulen zwischen Schwarz und Weiß für verfassungswidrig  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Linda Brown war zehn Jahre alt, als ihr Name am 17. Mai 1954 schlagartig Berühmtheit erlangte. An diesem Tag verlas der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofes der USA, Earl Warren, kurz vor ein Uhr die Entscheidung im Fall „Brown et. Al. V. Board of Education of Topeka, Kansas, et. Al.“ Kurz nach ein Uhr glaubten viele, am Beginn einer neuen Gesellschaft zu stehen: Das höchste Gericht der USA hatte die Rassentrennung an den Schulen für verfassungswidrig erklärt.

Heute ist Linda Brown, mittlerweile 50 Jahre alt, immer noch im Rechtsstreit mit dem Schulausschuß der Stadt Topeka im US- Bundesstaat Kansas. Der Grund: In Topeka ist die Segregation immer noch nicht an allen Schulen abgeschafft. Ein paar Autostunden entfernt, in Kansas City, hat ein Richter die Schulverwaltung zu einem gigantischen Investitionsprogramm verurteilt, um die öffentlichen Schulen für weiße Kinder attraktiv zu machen und so die Segregation aufzuheben.

40 Jahre nach dem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs tut sich nicht nur der Bundesstaat Kansas mit der Umsetzung schwer. 66 Prozent der rund sieben Millionen schwarzen SchülerInnen in den USA, so eine Studie der Harvard-Universität aus dem Jahr 1992, besuchen Schulen, die, wenn auch nicht mehr im juristischen, so doch im faktischen Sinn, segregiert sind. „Der Impuls der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre ist tot“, heißt es in dem Report. Es bahne sich ein Gegentrend zurück zur Rassentrennung an.

Zum Feiern gibt es an diesem 40. Jahrestag also wenig Grund. „Nicht wenige“, so die Vorsitzende der staatlichen Commission on Civil Rights, Mary Frances Berry, „fragen sich nach all den Auseinandersetzungen um die Umsetzung der Desegregation, ob es dieser Kampf wirklich wert gewesen ist.“

Denn über zehn Jahre lang passierte, abgesehen von einzelnen spektakulären Fällen der Desegregation wie in Little Rock, Arkansas, erst einmal gar nichts. Die Südstaaten betrachteten „Brown v. Board of Education“ als einen weiteren Versuch des verhaßten Bundes und des Nordens, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen und sabotierten die Umsetzung des Richterspruchs mit allen Mitteln. Als sich Schwarze dann in den sechziger und siebziger Jahren den Zugang zu weißen Schulen erkämpfen mußten, kam so nicht etwa die erhoffte gesellschaftliche Integration in Gang. Man mußte, so Theodore Shaw, der heute in der NAACP als Jurist für Rassentrennung an den Schulen zuständig ist, vielmehr zur Kenntnis nehmen, daß ein neuer Prozeß der Segregation in vollem Gang war: „Die Suburbanisierung Amerikas hatte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt“, schreibt Shaw in der Schwarzen-Zeitschrift Emerge. „Diese Entwicklung wurde begleitet von einer Politik der staatlichen Wohnungsbehörde, keine Hypotheken in gemischten Wohngegenden zu versichern.“ Die Folgen: die Verarmung der Städte, die einherging mit der Krise des öffentlichen Schulsystems. 5.000 Dollar werden jährlich pro Schüler in den vorwiegend schwarzen Großstadt-Schulen, 13.000 Dollar pro Schüler in den vorwiegend weißen Suburbs ausgegeben. Heute, vierzig Jahre nach „Brown v. Board of Education“, stehen ausgerechnet die Schulen, die einst Ausgangspunkt der neuen Gesellschaft werden sollten, inmitten des Teufelskreises aus ökonomischer Diskriminierung, Ghettoisierung und Gewalt. „Also“, sagt Mary Frances Berry, Mitglied der US Commission on Civil Rights, „fragen sich heute viele, ob dieser Kampf die Opfer wert gewesen ist.“ Das größte Opfer besteht nach Ansicht vieler darin, daß mit der Aufhebung der Rassentrennung ein völlig verarmtes, aber sozial halbwegs intaktes schwarzes Schulsystem aufgebrochen wurde. Im Verlauf der Desegregation verloren Tausende schwarze LehrerInnen ihren Job oder wurden in die weiße Schulstruktur eingegliedert, in der es für sie kaum Aufstiegschancen gab. Wenn heute schwarze Bürgermeister in Städten wie Seattle, Denver, St. Louis oder Cleveland Finanzmittel zur Desegregation, zum Beispiel für den Transport von Kindern in integrierte Schulen, lieber für ihre faktisch segregierten Schulen in den Ghettos verwenden, dann ist das weniger Ausdruck einer politisch rückständigen Sehnsucht nach alten Zeiten. Es demonstriert vielmehr die bittere Einsicht, daß Integration und Chancengleichheit Utopien bleiben, wenn sie nicht durch eine gezielte staatliche Fiskalpolitik untermauert werden.

War der Kampf um Desegregation die Energien und Opfer wert? „Natürlich“, sagt Theodore Shaw, „Der Fall Brown hat die gesetzliche Struktur des amerikanischen Apartheidsystems und seiner Folgen zu Fall gebracht. Punktum.“ Der Richterspruch vom 17. Mai 1954 war die normative Grundlage für die Bürgerrechtsgesetze. Das Urteil, so der weiße Jurist Walter Dellinger, erschütterte den Glauben der Weißen in den Südstaaten, daß Apartheid ein so unverrückbarer Bestandteil des Lebens sei wie das „Sonnensystem“.