Vorbild für Fritz Lang

■ Kunsthalle: Werke des venezianischen Architekten Giovanni B. Piranesi

Eine Folge von alptraumhaft unendlichen Innenräumen, in denen verschwindend kleine Personen trotz aller Treppen und Stege keine Chance zu haben scheinen, jemals das System zu verlassen: Die Serie der „Carceri“ des venezianischen Architekten Giovanni Battista Piranesi ist der Hauptgrund für seinen bis heute andauernden Nachruhm.

Der Kupferstecher des 18.Jahrhunderts hat in über tausend Drucken das barocke Rom abgebildet und sein Bild der Antike rekonstruiert. Die in den „Carceri“ erreichte einzigartige Verdichtung von Verlorenheit zu einer negativen Archtekturvision wurde später von den Romantikern ebenso geschätzt wie von metaphysischen Malern wie de Chirico. Seine Raumkonstruktionen wurden von Regisseuren des Expressionismus wie Fritz Lang zitiert,der sowjetische Filmemacher Sergeij Eisenstein fand in den „Carceri“ die filmischen Techniken Montage, Schnitt und Kamerafahrt vorvormuliert.

Doch solche Aktualität kann der Betrachter nur dem Katalogbuch von Annelie Lütgens entnehmen. Die Ausstellung der Hamburger Kunsthalle zeigt ausschließlich einen Querschnitt durch das Werk des großen Kupferstechers, das komplett in ihrem Besitz ist. 1915 hatte der damalige Direktor Gustav Pauli das Gesamtwerk Piranesis in 27 gebundenen Büchern angekauft. Um für die Präsentation an der Wand die Bücher nicht aufschneiden zu müssen, sind etliche Stiche aus dem wiedervereinigten Berliner Kupferstichkabinett ausgeliehen. Aus Privatbesitz kommt der aus sechs Blättern zusammengesetzte Rekonstruktionsplan des antiken Marsfelds, er gehört pikanterweise dem Kunsthallen-Neubau-Architekten O.M. Ungers, dessen eigene megalomanen Bau-Visionen gleichzeitig den schönen Kuppelraum der Kunsthalle besetzen.

Piranesi war Sohn eines Steinmetzes aus dem Umland Venedigs. Sein Onkel bildet ihn zum Architekten aus, er lernt Latein, Perspektive, Bühnenbild und Radiertechnik. Mit zwanzig kommt er nach Rom, der Stadt, der hinfort seine Obsessionen gelten. Es ist die Zeit, in der jeder adelige oder gebildete Mann von Welt auf seiner Grand Tour einmal Italien bereisen muß. Entsprechend hoch ist der Bedarf an Stadtansichten. Canaletto und Tiepolo malen solche Veduten der Umgebung von Venedig und erfinden das Capriccio. Das sind genau wiedergegebene Gebäude aus verschiedenen Orten zu einem phantastischen Bildensemble vereinigt.

In diesem Umfeld beginnt Piranesi zuerst mit den gutverkäuflichen Ansichten der römischen Pilgerkirchen. Zunehmend befaßt er sich mit der Antike, beteiligt sich an Ausgrabungen und stellt die Orte teils als Ruinen, teils als phantastisch rekonstruierte Anlagen dar. In seinen Forschungen und künstlerischen Umsetzungen ist er gleichermaßen detailbesessen,er untersucht die verschütteten Keller der alten Wasserversorgung, versucht das alte Rom aus Bruchstücken zu rekonstruieren und zeichnet sorgfältig auch einzelne Kleinfunde.

Sein 1756 mit 251 Tafeln erschienenes Werk „Antichità Romane“ wird dreihundertfach subskribiert und macht ihn in Europa bekannt. Schon bei diesen Ansichten fällt eine monumentalisierende und Übergröße suggerierende Darstellung auf. Immer scheint die Gefahr zu bestehen, irgendwo zwischen den Strichen in die psychisch desaströsen Räume der „Carceri“ zu fallen. Denn diese sind kein biographischer Endpunkt, sie entstehen gleichzeitig zum übrigen Werk.

Piranesis Werke werden im Zusammenhang mit der postmodernen Architektur wieder aktuell, auch im Katalog zur Ausstellung „Architektur der Ideen“ im Kunsthaus werdenAspekte seiner Arbeiten aufgegriffen. Doch schon Siegmund Freud zog eine Parallele zwischen der Archäologie des alten Rom und der Erforschung des Unbewußten. Er dachte die Stadt als psychisches Wesen, in dem alle Entwicklungsphasen gleichzeitig fortbestehen und für das bessere Verständnis analysiert werden müssen. Hajo Schiff

Kunsthalle, bis 17.Juli