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Darüber wird nicht gesprochen

■ Wenn sexueller Mißbrauch in einer türkischen Familie öffentlich wird, brechen Nachbarn, Verwandte und Freunde den Kontakt ab / Konfliktlösung hängt von Bildung, sozialer Lage und Religiosität ab

„Sexueller Mißbrauch gilt in der türkischen Gesellschaft als eines der schlimmsten Dinge“, sagt Dilek Zaptcioglu, Redakteurin der türkischen Zeitung Cumhuriyet. Das werde sehr stark verurteilt. Für den Beschuldigten sei der Vorwurf „sehr beschämend“. Über das Thema werde allerdings nicht gesprochen, das habe sich auch nach dem Blutbad in der Kreuzberger Manteuffelstraße nicht geändert.

Dort hatte am vergangenen Dienstag der 27jährige Orhan I. im Wohnzimmer eine Handgranate auf den Ehemann und die Schwiegereltern seiner Nichte Eylem Y. geworfen, die ihn des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt hatte. Der Ehemann und die Schwiegereltern starben an ihren Verletzungen.

Die 16jährige Eylem Y. werde noch weiter vernommen, erklärte ein Mitarbeiter der ermittelnden Mordkommission gegenüber der taz. Ihrer Aussage nach sei sie zum Zeitpunkt der sexuellen Mißhandlung sieben Jahre alt gewesen und habe in der Türkei gelebt. Der Beamte wollte sich nicht dazu äußern, ob ihre Aussagen zum sexuellen Mißbrauch glaubwürdig seien. Die Kripo versucht nun, Familienangehörige in der Türkei und in Duisburg ausfindig zu machen, um sie als Zeugen zu vernehmen. Der Onkel selbst sei vernehmungsfähig, mache aber keine Aussage, auch nicht zum Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs. Ein denkbares Tatmotiv sei verletzte Ehre, weil die Nichte den Vorwurf öffentlich erhoben habe, so der Beamte.

„Wenn bekannt wird, daß in einer Familie sexueller Mißbrauch vorgekommen ist, dann wird diese Familie ausgestoßen“, sagt der türkische Sozialarbeiter H. Nachbarn, Freunde und Bekannte würden daraufhin den Kontakt abbrechen. Das gelte in der Türkei, und unter Migranten in der Bundesrepublik noch viel stärker. Wenn es zu sexuellem Mißbrauch komme, bedeute dies, daß der Vater seine Pflicht, die weiblichen Familienmitglieder zu schützen, nicht erfüllt habe. Er gelte deshalb als ehrlos, ganz gleich, ob er davon gewußt habe oder nicht.

Dilek Zaptcioglu berichtet von einem Fall, in dem ein türkischer Vater Selbstmord begangen hat, nachdem ihn seine Tochter beschuldigt hatte, sie mißbraucht zu haben. „Das Mädchen wollte weg von der Familie und hat später zugegeben, daß sie das erfunden hat“, so Zaptcioglu.

Die Frage, ob der Onkel von Eylem Y. möglicherweise zu Unrecht beschuldigt worden ist, hatte nicht nur der Ethnologe Werner Schiffauer in einem Interview mit der taz aufgeworfen. Die türkische Zeitung Hürriyet hatte die Ehefrau des Onkels zitiert, die ihren Mann in Schutz nahm. Er habe seine Nichte schon fünf Jahre nicht gesehen. Der Mißbrauch soll allerdings länger zurückliegen.

Mitarbeiterinnen des türkischen Frauenprojekts TIO sind darüber empört, daß die Aussage der 16jährigen in Zweifel gezogen wird. „Frauen wird immer entgegengehalten, daß sie nicht glaubwürdig sind“, sagt Karin Heinrich. Ihre Aussage anzuzweifeln bedeute, der jungen Frau eine Mitverantwortung an dem Geschehen zuzuschieben. Damit werde vom Täter abgelenkt. „Diskussionswürdig ist doch, warum der Onkel eine Handgranate geworfen hat“, sagt sie. Einen Familienangehörigen des sexuellen Mißbrauchs zu beschuldigen habe schwerwiegende Konsequenzen. „Warum sollte sie sich dem grundlos aussetzen?“ fragt Karin Heinrich. Wenn die junge Frau bei der Hochzeit keine Jungfrau mehr gewesen sei, hätte die Familie dies sofort nach der Hochzeitsnacht klären müssen. Die liege aber bereits ein halbes Jahr zurück.

Eine weitere Ungereimtheit ist für den türkischen Sozialarbeiter H., daß sich die Familie des Mädchens offenbar nicht in den Konflikt eingeschaltet hat. Denn auch wenn die Tochter verheiratet ist, sei in so einem Fall die Ehre des Vaters verletzt. Er betont jedoch, daß es kein festes Handlungsmuster gibt. Wie der Konflikt gelöst werde, hänge von der Bildung, der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Familie ab, davon, wie lange sie schon in der Bundesrepublik lebt und ob sie religiös ist.

Dilek Zaptcioglu sagt, daß viele TürkInnen die Berichterstattung deutscher Medien über die Familientragödie in der Manteuffelstraße als diskriminierend empfunden haben. Klischees von Blutrache vermittelten den Eindruck einer rückständigen Gesellschaft. „Sexueller Mißbrauch ist keine kulturelle Eigenart. Und es gehört für uns auch nicht zum Alltag, Konflikte mit Handgranaten zu lösen.“ Dorothee Winden

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