■ Cannescannes: Auf die Leerstelle gepfropft
Ich weiß, man kann es nicht mehr hören, aber ich habe doch eine Berichterstatterpflicht! Also: Krise, Krise, Krise. Auch hier wieder sieht man sich mit dem desolaten Zustand des europäischen Autorenkinos konfrontiert. Die Symptome sind bekannt: Langeweile und Prätention, ohnmächtiger Stilwille, zusammengefieselte Geschichten, Desinteresse an den Schauspielern, das Ganze nicht selten versetzt mit Attacken auf Hollywood und das Fernsehen, die zwar tatsächlich nicht selten dumm sind, aber doch wenigstens effizient. Leider.
Soweit die Diagnose, die heutige Frage aber lautet: Gibt es ein Gegenmittel? Ich behaupte: Ja. Vielleicht hat die allgemeine Schwierigkeit, Geschichten zu erfinden, ja etwas mit der allgemeinen Lage zu tun, die man sich auch nicht zusammenreimen kann. Vielleicht sollte man darum gerade versuchen, nicht eine besonders originelle Geschichte zu erzählen, nicht einen höchstpersönlichen Stil zu entwickeln, nicht beeindrucken zu wollen – sondern einfach anzufangen, hier und jetzt, zur Not bei sich selber.
Ich habe da eine „Baum und Bürgermeister“-Theorie. Eric Rohmer fand ein Dorf, einen alten Baum, eine ungenutzte Wiese und pfropfte seinen Film auf diese Leerstelle. Soll da eine Mediathek hin oder besser nicht? Heraus kam einer der politisch aktuellsten, intelligentesten Filme der letzten Jahre. Er war billig, und um die wenigen, die neugierig genug sind, wirbt er mit Anmut und Witz. So wird er seine Kosten mehr als einspielen.
Nanni Morettis „Caro Diario“, der gestern im Wettbewerb lief, liefert mir die schönste Bestätigung meiner Theorie. Das erste Kapitel dieses filmischen Tagebuchs heißt „Auf meiner Vespa“. Moretti setzt sich auf seine Vespa und fährt durch Rom, die Kamera verfolgt ihn, aus dem Off tönt ein freundliches Stück afrikanischer Popmusik, und Moretti erzählt: über Rom, seine liebsten Stadtviertel, die Häuser, in denen er gerne wohnen würde, die Stelle, wo Pasolini ermordet wurde, die Wohnungspreise und daß „Flashdance“ sein Leben veränderte, denn er habe sich immer gewünscht, tanzen zu können. Ab und zu steigt er ab, verdichtet das Erlebte in kleinen, gespielten Szenen, hält einen Vortrag, schüttelt einen Kritiker, der es gewagt hat, „Henry, Portrait of a Serial Killer“ zu loben. Und was soll ich sagen: Es funktioniert. Der Film ist witzig, spannend, unterhaltsam, traurig, persönlich, ohne aufdringlich zu sein.
So geht es weiter. Im zweiten Kapitel fährt Moretti auf die Inseln: Lipari, Salina, Alicudi, Stromboli. Wie dankbar ist man Moretti, daß er hier nicht larmoyant wird und den großen Rossellini beschwört. Statt dessen setzt er sich mit einem Freund auf den Vulkan und diskutiert über die Frage, ob Sally Spectra aus der Serie „Die Schönen und die Reichen“ ihrem Mann verraten hat, daß sie schwanger ist. Im dritten Kapitel schildert er den quälenden und nicht gerade, durch die Kunst der Ärzte, glimpflichen Verlauf seiner Krebserkrankung.
Drei Kapitel. Kein Ringen um die Form, keine großartige Geschichte, kein auftrumpfender Ästhetizismus. Wieder einer dieser eigenartigen Filme, in denen sich Dokumentarisches, Fiktives und Reflexion vermischen, und die im Kino der letzten Jahre wesentlich öfter überzeugten als das herkömmliche Autorenkino. Warum setzt sich kein Berliner Regisseur auf die Vespa und zeigt die zuwachsenden Wunden und bleibenden Narben, schaut in die klaffenden Baulöcher und auf die Pirouetten der Kräne? Aus Cannes Thierry Chervel
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