: Sozialisten als Sparkommissare
Vor dem zweiten Wahlgang in Ungarn zeichnet sich ab, daß die Wende-Sozialisten in der Regierung eine ungewohnte Rolle übernehmen ■ Aus Budapest Keno Verseck
Budapest (taz) – Ungarns Wirtschaftsforscher warnen vor übersteigerten Zukunftserwartungen. Sie beziehen sich damit allerdings weniger auf die Sozialisten, die vor gut zwei Wochen die Wahlen gewonnen haben und nach dem zweiten Durchgang am kommenden Sonntag voraussichtlich die neue Regierung bilden werden. Gemeint ist die Belebung der ungarischen Wirtschaft im letzten Jahr. Die, so die meisten Ökonomen, wird sich nicht fortsetzen, sondern in den nächsten ein bis zwei Jahren einer vorübergehenden Stagnation weichen.
Die „Ungarische Sozialistische Partei“ (MSZP) mag Hoffnungen geweckt haben – viel versprochen hat sie ihren Wählern nicht. Die Parteistrategen stimmen mit den Einschätzungen und Prognosen von Wirtschaftsexperten weitgehend überein. Mehr noch: der führende Wirtschaftspolitiker der MSZP, László Békesi, malt ein denkbar düsteres Bild von der Wirtschaftslage des Zehn-Millionen-Landes und spricht von strengen Sparmaßnahmen, die in den kommenden Jahren durchgesetzt werden müssen.
Deren Notwendigkeit erklärt László Csaba, Konjunkturforscher am angesehenen Budapester Kopint-Datorg-Institut, mit der „wahlzyklischen Wirtschaftspolitik“, die die bisherige Regierungspartei, das christlich-national-konservative „Ungarische Demokratische Forum“ (MDF), seit langer Zeit betrieben hat.
Zwar sank das Bruttosozialprodukt 1993 noch um zwei Prozent. Gleichzeitig stieg aber die Industrieproduktion zum erstenmal wieder an, und das sogar um knapp vier Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen ging langsam auf derzeit 611.000 (rund 12 Prozent) zurück. Investitionen in der Wirtschaft und der Konsum der Bevölkerung nahmen zu. Bei der Summe der Auslandsinvestitionen steht das Land unvermindert an erster Stelle unter allen osteuropäischen Ländern.
Die Wachstumstendenz könnte anhalten, so Csaba, wären sie nicht auf Pump finanziert. Zwar sei die Transformationskrise der ungarischen Wirtschaft überwunden, doch die Regierung habe das Land in eine Stabilisierungskrise geführt. Sie hat, um ihre Wahlchancen zu steigern, zuviel ausgegeben und eine Wirtschaftspolitik betrieben, die bei weitem die Verhältnisse des Landes übersteigt.
Das Haushaltsdefizit wuchs in den vergangenen Jahren kontinuierlich an und könnte dieses Jahr acht bis zwölf Prozent des Bruttosozialproduktes ausmachen. Unzureichende Reformen im Sozialversicherungssystem und falsch konzipierte Sozialausgaben, ein aufgeblähter Staats- und Verwaltungsapparat, großzügige Unterstützung für Parteien, Kirchen und Institutionen trieben die Ausgaben in die Höhe, geplante Einnahmen blieben trotz zahlreicher Steuererhöhungen aus.
Nachdem die ungarischen Auslandsschulden zeitweise stabil gehalten werden konnten, wuchsen sie in den vergangenen beiden Jahren auf mittlerweile 26 Milliarden Dollar an. Allein im vergangenen Jahr kamen noch einmal 1,7 Milliarden Dollar hinzu.
Die Nationalbankpolitik einer verzögerten Abwertung des Forint bei schrittweiser Senkung der Zinsen machte das Importieren billiger und ist so mitverantwortlich für das Handelsbilanzdefizit von rund 800 Millionen Dollar und die Inflation von 23 Prozent im vergangenen Jahr. Laut Plan hätte die Inflation unter 15 Prozent liegen sollen.
Negativ ausgewirkt hat sich auf den Staatshaushalt und die Inflationsrate auch die Ausgabe von sogenannten Entschädigungsscheinen im Wert von insgesamt 120 Milliarden Forint (2 Milliarden Mark). Damit sollten die Besitzer des von den Kommunisten nationalisierten Eigentums entschädigt werden.
Zwar sind dem Staat aus der Gesamtsumme der Scheine, die an der Börse gehandelt und in Aktien eingetauscht werden können, bislang nur rund 20 Milliarden Forint Verbindlichkeiten erwachsen. Allerdings wurde das Entschädigungssystem neuerdings mit einem Massenprivatisierungsprogramm gekoppelt, welches den Abschluß des „Entschädigungs-Prozesses“ beschleunigen soll.
Der scheidende MDF-Finanzminister Iván Szabó meint dennoch, die Regierung hätte ihre Politik der Wirtschaftsankurbelung noch viel strenger durchsetzen müssen. Ohne Wachstum könne ein makroökonomisches Gleichgewicht nicht durchgesetzt werden, da sei die MDF- Wirtschaftspolitik noch zu restriktiv gewesen.
Eine wirtschaftliche Sparpolitik wollen die Sozialisten, zumindest laut ihrem Programm, nun einführen. Darunter weiterhin hohe Realzinsen, Abwertung des Forints, Ausgabenkürzungen. Sie gehen davon aus, daß nach einer Stagnation oder einem Nullwachstum in den kommenden Jahren ein wirklicher Aufschwung ab Ende 1996 einsetzen könnte. Eine Politik, meint László Csaba, wie Maifrost: Wenn alles schon blühe, komme der Frost und es werde viel weniger Früchte geben.
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