Opfer von Schuld befreit

■ Bewährungsstrafe für den lebensgefährlichen Messer-Angriff auf die Nichte

Hanan M., die am 22. Januar 1993 von ihrem Onkel mit dem Messer schwer verletzt wurde, hat dem Täter die Freiheit geschenkt. Indem sie sich vor Gericht selbst beschuldigte, Ahmed Ali K. zum Angriff „provoziert“ zu haben, half sie dem Onkel aus der Anklage wegen versuchten Totschlags heraus (vgl. taz, 25.5.). Denn vor allem auf ihre Haltung gegenüber der Tat - „Ich habe meinem Onkel verziehen – und er mir“ - bezog sich die 2. Strafkammer des Landgerichtes bei seiner gestrigen Urteilsbegründung. Auch die Einigkeit, die Hanan M. und ihre Familie zur Schau stellten, spielte dabei eine Rolle: Ahmed Ali K. wurde lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Zusätzlich muß er bis Ende des Jahres zusätzlich 90 Tage gemeinnützige Arbeiten verrichten – ein mildes Urteil für eine Tat, für die das Gericht den bedingten Tötungsvorsatz als erwiesen ansah.

„Aber wir müssen hier über Dinge urteilen, die uns allen fremd sind“, begründete Richter Axel Fangk die Haltung des Gerichtes und meinte damit nicht nur das Motiv der „Familienehre“, weswegen der Onkel seine Nichte fast erstochen hätte: Vor einer Boutique hatte der 40jährige Mann das Mädchen angegriffen, weil er ihr einen „Denkzettel“ verpassen wollte, damit sie zu den Eltern zurückkehre, so der Angeklagte. Ausschlaggebend sei bei der Strafbemessung vielmehr gewesen, daß man sich in der Familie verziehen habe – das habe Hanan M. glaubwürdig dargestellt. „Auch wenn wir uns sonst einige märchenhafte Ausführungen anhören mußten“, rügte Richter Fangk die Wahrheitsliebe mancher ZeugInnen bei ihrer Aussage.

Das Opfer stand im Mittelpunkt der Urteilsbegründung – nicht der Täter. Dem hielt man zwar zugute, daß er sich der Justiz gestellt und die Tat gestanden hatte. Und als er die Tat mit Tränen in den Augen bereute, glaubte man ihm. Aber der eigentliche Grund für die Milde lag in der Sorge um das Wohlergehen seines früheren Opfers. Vor allem die Nichte solle durch ein hartes Urteil nicht zusätzlich belastet werden, führte Richter Fangk aus und würdigte damit die Entscheidung von Hanan M., zu ihrer Familie zurückzukehren. Dies tat er, ohne zu verschweigen, daß der ursprüngliche Konflikt - der Wunsch „frei zu sein“ - zwischen Hanan M. und ihrer Familie wieder aufbrechen könnte. Und auch die äußeren Umstände benannte er, die es Hanan M. erschwerten, unabhängig zu leben: die Sorge um ein familienunabhängiges Bleiberecht.

Nur weil es Hanan M. viel bedeutete, daß der Onkel ihr „verziehen“ hatte, erinnerte Richter Fangk, wolle das Gericht weitere Schuldgefühle vermeiden – für das Opfer. Eva Rhode