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Mit Sechzehn hat man noch Träume

Die Konkurrenz um begehrte Lehrstellen ist schärfer geworden / Im Westen gibt es weniger Ausbildungsplätze als im Vorjahr, im Osten fehlen 70.000 Lehrstellen / Viele Jugendliche müssen ihren Berufswunsch begraben  ■ Von Barbara Dribbusch

„Traumjobs“ gibt es viele. „Einzelhandelskaufmann“, sagt Mustafa Demir sehnsüchtig, „das hätte ich mir als Beruf gewünscht.“ Der 16jährige besucht die zehnte Klasse in der Hector-Peterson-Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg. Fünfzehn Bewerbungen hat er schon abgeschickt, die meisten Firmen haben nicht mal geantwortet. Und dabei ist schon Ende Mai. Seinen Berufswunsch wird Mustafa wohl begraben müssen. Und damit ist er nicht allein: Im Konkurrenzkampf um Lehrstellen müssen immer mehr BewerberInnen zurückstecken. Sowohl im Westen als im Osten Deutschlands hat sich das Verhältnis von Lehrstellenangeboten zu BewerberInnen seit dem Vorjahr verschlechtert. Im Westen ist die Zahl der Ausbildungsplätze je nach Wirtschaftssektor um 15 bis 19 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der BewerberInnen dagegen stieg um 6 bis 10 Prozent. Im Osten hat die Zahl der Lehrstellenangebote zwar um 7 Prozent zugenommen, der Anteil der BewerberInnen aber erhöhte sich gleichzeitig um 20 Prozent. Betrachtet man nur die absoluten Zahlen, sieht der Westen zwar noch ganz gut aus. In den alten Bundesländern einschließlich Westberlin waren Ende April bei den Arbeitsämtern 220.000 offene Lehrstellen und nur 167.000 BewerberInnen gemeldet. Aber das günstige Zahlenverhältnis täuscht. Denn erstens gibt es von Region zu Region große Unterschiede. Und zweitens decken sich das bestehende Ausbildungsangebot und die Anforderungen der Unternehmen nicht mit den Berufswünschen und Voraussetzungen, die BewerberInnen mitbringen.

„Industriemechaniker/in“, „Kabeljungwerker/in“, „Maurer“, „Bäcker/in“, „Textilreiniger/in“ – diese Berufe stehen auf der Liste freier Ausbildungsplätze, die auf dem Flur der Kreuzberger Gesamtschule hängt. Es sind nicht gerade die Jobs, von denen 16jährige träumen. Auch Sevda Maras nicht. Mustafas Mitschülerin hat gute Noten und wollte eigentlich einen kaufmännischen Beruf erlernen. Wieviel Bewerbungen sie schon losgeschickt habe? 40, vielleicht 45, sagt Sevda. An Versicherungen, an die Berliner Senatsinnenverwaltung, an Verlage, Kaufhäuser, Industrieunternehmen. „Das Schlimmste ist, wenn die Betriebe nicht mal antworten“, schildert sie.

Zehn Einstellungstests hat Sevda durchgestanden. Die Allianz-Versicherung schickte ihr danach wenigstens einen freundlichen Brief: „Sie haben beim Testergebnis gut abgeschnitten“, hieß es darin, „aber leider waren viele andere Bewerber noch besser.“ Jetzt wird Sevda Krankenschwester. Beim Deutschen Roten Kreuz hat sie einen Ausbildungsplatz gefunden.

Nur etwa ein Drittel der SchülerInnen, die sich um eine Lehrstelle bemühten, haben einen Ausbildungsvertrag in der Tasche, schätzt Klassenlehrerin Hilke Hartmann. Ausbildungsplätze, die sich die Teenager wünschen, sind Mangelware – und die Ansprüche der Unternehmen hoch. Bei Siemens in Berlin etwa gingen im gewerblichen Bereich 1994 648 Bewerbungen ein. 106 InteressentInnen wurden eingestellt. Trotz der hohen Bewerberzahl aber sind noch zehn Stellen offen. „Wer schlechte Noten in Mathematik hat, der kommt für eine technische Ausbildung nun mal nicht in Frage“, meint Siemens-Eignungsberater Hermann Otto. Die Investition in die Lehrlinge muß sich lohnen, denn ein Ausbildungsplatz kostet das Unternehmen 130.000 Mark.

Selbst beim Metall- und Elektrokonzern Siemens bemühen sich mehr InteressentInnen um die kaufmännischen als um die gewerblichen Lehrstellen. Denn das Prestige der Fertigungsberufe sinkt, nicht zuletzt wegen des Stellenabbaus in der Industrie. Büroberufe dagegen sind gefragt. In den Berliner Verwaltungen beispielsweise hat sich die Zahl der InteressentInnen für den Beruf des „Verwaltungsfachangestellten“ von 387 im Jahre 1992 auf 744 in diesem Jahr nahezu verdoppelt. Davon wurden nach einem Einstellungstest und Vorstellungsgesprächen 99 Prüflinge genommen.

Im Westen Berlins können die Arbeitgeber besonders gründlich auswählen. Denn hier konkurrieren Jugendliche aus dem Ostteil der Stadt und dem Umland mit West-SchülerInnen um die begehrten Stellen – mit fatalen Folgen. „Ein Personalleiter hat mir klar gesagt, er nehme lieber Deutsche als Ausländer“, erzählt Mustafa. Wer von den Ost-Jugendlichen nahe der ehemaligen DDR- Grenze wohnt, hat noch Glück gehabt. Denn im Osten selbst ist der Lehrstellenmarkt eine einzige Wüste. Ende April waren in den neuen Ländern nur 28.000 freie Ausbildungsstellen gemeldet. Dem standen 95.000 BewerberInnen gegenüber. Selbst um den sonst ungeliebten Bäcker-Beruf bemühen sich hier mehr InteressentInnen, als Stellen vorhanden sind.

Der Lehrstellenmangel hat häßliche Nebenwirkungen. Im Jahre 1992 beispielsweise wurden rund 40 Prozent der Ost-Ausbildungsstellen geschlechtsspezifisch nur für Männer ausgeschrieben. In einigen Arbeitsamtsbezirken betrug dieser Anteil sogar 60 Prozent.

Um die Misere im Osten erträglicher zu gestalten, werden dort mehr und mehr außerbetriebliche Ausbildungsstätten eingerichtet. Schon im Jahre 1992 lernten etwa ein Fünftel der Ost-Lehrlinge in außerbetrieblichen Zentren – in Lehrgängen, die wegen der Praxisferne jedoch gemeinhin als „zweitklassig“ gelten.

Wer weder in Betrieben noch in Ausbildungszentren unterkommt, drückt weiter die Schulbank. Auch Mustafa aus Berlin-Kreuzberg will „auf das Oberstufenzentrum“ gehen, wenn er keinen Ausbildungsplatz findet. Pünktlich zum Herbst wird er damit aus der Statistik der Suchenden verschwunden sein. Wie Tausende andere LeidensgenossInnen auch, die sich in schulische Lehrgänge flüchten. Vielleicht kann der Bundeskanzler dann doch noch eine „ausgeglichene Ausbildungsbilanz“ in Deutschland melden. Wie im vergangenen Jahr.

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