: Die Toskana des nahen Ostens
Endlich „blühende Landschaft“: Im thüringischen Apolda gedeihen Kunst und Kultur dank eines rührigen Landrats. New Yorker Fotografen und ein preußisches Hauptquartier stehen in seltener Harmonie ■ Von Heide Platen
Im Gasthof „Schwanenteich“ in Bad Sulza ist Spargelessen mit Straußensteaks angesagt, im Nachbarort ein erstes „illegales“ Pröbchen Qualitätssekt der vorjährigen heimischen Ernte, im Klinikzentrum beginnt gerade eine Vernissage. Die „Toskana des Ostens“ liegt in Thüringen und zwischen Ilm, Unstrut und Saale. Die Region kulminiert, so Micky Remann euphorisch, „zum Brennglas von Kunst und Genuß“. Der Medienkünstler und Autor, der über Afrika, Asien, Australien nach Apolda kam, sieht „blühende Landschaften“, einen „Fokus alter deutscher Geschichte und neuer Kultur“.
Eines der Zentren dieser Hybris ist das Klinikum, ehemals Sanatorium für Wismut-Geschädigte, in Bad Sulza. Die New Yorker Fotografin Linda Troeller ist aus Miami eingeflogen. Sie zeigt „Healing Waters – Sex, Death And Transcendence“, Bilder von heilenden Quellen aus aller Welt. Zur Eröffnung sind auch Bürgermeister und Landrat gekommen. Linda Troeller will, ausgerechnet in Bad Sulza, eine Weltneuheit ablichten: „Liquid Sound“, die erste Unterwasserdisko, ein Thermalsolebad mit Light-Show und Unterwassermusik.
Die 1969 entstandenen Gebäude „mit gutem Grundriß“ sind von zwei „Wessis“ übernommen und 1993 neu eröffnet worden. Aus Plattenbau wurde Bauhaus. Möbel und Design aus DDR-Zeiten sind behutsam integriert: „Das macht, daß die Leute staunen und wieder stolz auf ihre Sachen sind.“ Linda Troeller weht wie ein schwarzroter Paradiesvogel durch die Gänge. Freizeitangebote, Cafeteria, Bibliothek, Musik und Licht, auf die Patientenbedürfnisse abgestimmt, ergänzen die „eigentlich ganz klassische medizinische Therapie“ und neuere Heilmethoden.
Daß der renommierte Dermatologe der Klinik Friedrich Schiller heißt, ist ebenso wie die Tatsache, daß ein Herr Goethe Linda Troeller für die Lokalzeitung fotografiert, schon nicht mehr gewöhnungsbedürftig. Das Solebad behandelt Krankheiten der Atmungsorgane, Haut-, Tumor-, Gelenk- und Rückenleiden. Und es „verwöhnt“, so Böhm, die Patienten auch ein bißchen.
Bad Sulza liegt im Landkreis Apolda. Der wird mit Weimar- Land zusammengelegt, weil jeder von ihnen als Verwaltungseinheit zu klein ist. Das macht, zeitgleich mit den Kommunalwahlen, Neuwahlen erforderlich. 160 KandidatInnen konkurrieren am 12. Juni auf 12 Listen um die 46 Kreisparlamentssitze. Einer von ihnen ist Hans-Helmut Münchberg – seit einigen Wochen parteilos. Er ist der einzige Landrat in ganz Thüringen, der sich selbst im Juli 1991 nicht in die höchst-, sondern die niedrigstmögliche Besoldungsgruppe einstufen ließ. Wenn er, begründete er das, von seinen MitarbeiterInnen Sparsamkeit verlange, könne er eben auch „nicht aus dem vollen schöpfen“. Das Büro des Landrates in einer kleinen Jugendstilvilla ist ein mittlerer Alptraum. Die Räume der Angestellten sind hell und licht renoviert. Münchberg dagegen hockt noch im dunklen Interieur, die scheußliche purpurrote Sitzgarnitur hat er auch behalten.
Sein Konzept der „Philosophie der absoluten Sparsamkeit im eigenen Verbrauch“ klingt ein wenig harsch, senkt aber die Kosten – auch durch ungeliebte Personaleinsparungen. Darauf, daß Bauanträge bei ihm, statt wie in Weimar in acht Monaten, „in durchschnittlich 19 Tagen“ bearbeitet werden, ist er richtig stolz. Das schaffen „seine Leute“ noch dazu „mit fünf statt mit zwölf Stellen“. Münchberg ist aber nicht dafür, schönzureden: „Das liegt mir gar nicht.“ Statt dessen wedelt er mit den harten Zahlen der Jahresabschlüsse: „Das ist das, was wirklich zählt.“ Der Landrat ist 1988 in die CDU eingetreten und bei deren Parteimitgliedern nicht mehr gut gelitten. Er hatte das, was er einen „Rechtsrutsch nach der Wende“ nennt, nicht mitmachen wollen. Schon 1991 bedachte die neue CDU ihn mit einem Mißtrauensantrag: „Da machten aber die Dorfbürgermeister nicht mit.“
Daß ihm zwei Stellenangebote gemacht wurden, wenn er „loyal“ sei, findet er empörend: „Ich bin nicht käuflich.“ Im Februar dieses Jahres trat er bei den Christsozialen aus, denen er „uneinhaltbare Wahlversprechen“, Parteienproporz, „Denken in Farben“, „falschen Fortschrittsglauben“ und „Kaputtsanierung“ vorwirft. In einer Rede zum Neujahrsempfang kündigte er seine unabhängige Kandidatur an.
Münchberg hat eine der Regionen mit den höchsten Arbeitslosenzahlen von weit über 20 Prozent mitzuverwalten. Er setzt dabei, mit dem im Amt gesparten Geld, auf den Luxus Kultur im
Umland von Weimar. „Apolda Avantgarde“, im Februar mit Spektakel in der Tiefgarage gefeiert, soll „Weimar Klassik“ ergänzen: „Das Umland muß aufgewertet werden.“ Das gehe auf die Dauer nicht nur durch Gewerbegebiete: „Das Angebot ist hier mittlerweile viermal so hoch wie die Nachfrage.“ Industrie und Gewerbe, meint er, werden sich langfristig nur wieder einfinden, wenn die Umgebung attraktiv ist. Beides auf einmal und sofort haben zu wollen, das, vermutet er, sei „die eierlegende Wollmilchsau“.
Die Ausstellung „Salvador Dali – Graphik und Plastik“, außer in Lausanne nur in Apolda zu sehen, war im Sommer 1993 ein überraschender Erfolg. 14.500 statt der erwarteten 4.000 Menschen kamen, Plakate und Kataloge sind restlos ausverkauft. Ab Ende Juni werden Werke „Von Picasso bis Man Ray – Schätze aus der École de Paris“ ausgestellt.
Micky Remann sagt, er habe hier das Staunen gelernt: „Es ist schon eine Kühnheit, solche Projekte in solch einem desolaten Umfeld überhaupt zu wagen.“ Die Stadt der Strumpf- und Wollwirkereien hat fast ihre gesamte Textil- und Maschinenindustrie verloren. Sie lieferte vor der Wende vor allem nach Osteuropa, und, zu Dumpingpreisen, an bundesdeutsche Versandhäuser. Heute haben sich nur einige kleinere Firmen erhalten. Design und Mode sollen aber bleiben, der 1. Designwettbewerb „Textil & Mode“ ist hoch dotiert und knüpft an die 400jährige Tradition an. Auch die Zeit der Gloc
kengießereien, die dem Ort vor fast 300 Jahren zum Aufschwung verhalfen, ist vorbei. Aber gerade dann und jetzt erst recht sei Zeit für Innovationen. Die Welt verdankt dem Apoldaer Erfindungsgeist immerhin schon die größte freischwingende Glocke der Welt, das Apollo-Automobil, den ersten Briefmarkenkatalog und die Dobermannzucht. Unternehmer Klaus Dieter Böhm: „Es war eben nicht nur alles Mist, wie man es den Leuten hier eingeredet hat.
Selbst die Lokalzeitung registriert erstaunt: „Permanente Besucherrekorde sah man hierzulande als Relikt aus grauer Vorzeit an.“ Das Glockenmuseum entwickelt sich trotz der drastischen Preiserhöhung von einer auf ganze zwei Mark nach und nach zu einem Publikumsmagneten. Das bringt Menschen und Geld in die Stadt. Landrat Münchberg ist unermüdlich. Er legte sich mit der Treuhand und dem Dualen System an, fördert nicht nur „Hochgestochenes“, sondern auch Jugendzentren, Gärtner-, Sänger- und Heimatvereine, Kirchenrenovierungen und Dorferneuerung. Und er macht sich dabei auch selbst über sich lustig. Seine erste Broschüre, die 1990 für Apolda werben sollte, ist im nachhinein „unmöglich“. Fotos von hallenartigen „Zweckbauten“ sollten Investoren anlocken.
Münchberg will den Konkurrenten um Fördergeld und Besucherzahlen, die Nachbarstadt Weimar, aber nicht ausstechen: „Weimar ist der Brillant, wir sind die Fassung.“ Denn: „Ohne Umland geht nichts, schon gar nicht für eine Kulturstadt.“ Und da habe die Region doch allerlei zu bieten, zum Beispiel die Weinberge an Ilm, Saale und Unstrut, die nördlichsten Weingüter Europas. Die Lagen heißen unter anderem Großheringer Sonnenberg und Almricher Steinmeister. Burgen, Berge und Historie gibt es gratis dazu.
Auf dem Sonnenberg über Bad Sulza residiert der griechische Wirt Constantin Papageorgiu. Er ist auch so ein risikofreudiger Unternehmer und produziert Saziki und Salate inzwischen nicht mehr nur in Berlin, sondern auch in thüringischen Molkereien. Der Blick auf die Weinberge und die umliegenden Burgen hat es ihm angetan. Im Keller der romantizistischen, 1908 vom damaligen „Verschönerungsverein“ erbauten Sonnenburg ist eine künstliche Grotte verborgen, hier spüren Klein-Neuschwanstein-Schatzsucher immer noch nach dem Bernsteinzimmer.
Die Gegend, sagt Remann, „ist urdeutsch“. Mitte Mai traf sich der „Förderverein Auerstedt“ in seinem neuen Domizil. In das ehemalige Hauptquartier der Königlich Preußischen Armee sollen Musik, Künstler und Kultur einziehen. Das Schlachtfeld, auf dem die Franzosen 1806 gegen die Übermacht der Preußen siegten, liegt hinter dem nächsten Hügel bei Hassenhausen. Der greise Stratege, der von hier aus die Schlacht verlor, Herzog Karl Ferdinand von Braunschweig, soll, so ein Gerücht, heimlich mit den Franzosen sympathisiert haben. Da wird am deutschen Mythos gekratzt. Die drei Linden auf dem Bergrücken gegenüber gelten als Befehlsstand Napoleons. Dort wachsen auf kalkigem Grund seltene Orchideen. Die Solebohrtürme von Darnstedt, im Fremdenführer „mit Wasserrad und Feldgestänge“ beschrieben, sind verfallen, Holz und Metallgeräte verrottet. Das soll nicht so bleiben. Auch hier wird, wie in Auerstedt, mit Hilfe des Arbeitsamtes restauriert werden. Micky Remann, Geschäftsführer des „Fördervereins Auerstedt“, ist im Gründungsfieber: „Das ist alles so viel und so toll!“
Daß heilendes Wasser, Wein, Wald und Wiesen plus Kultur Zukunft haben, rechnete inzwischen auch das Statistische Landesamt nach. Während die rund 125.000 Weimar-Besucher im Januar 1994 durchschnittlich nur 1,7 Tage verweilten, blieben die Kurgäste im Nachbarort Liebenstein 26,7 Tage und brachten es damit auf ein Viertel der gesamten Übernachtungen. Das gibt dem streitbaren Landrat Münchberg recht, der mittlerweile eine richtige Fan-Gemeinde hat: „Wir wollen ihn behalten!“ Das sagen mittlerweile auch Vertreter anderer Parteien, die ihn am 12. Juni wählen wollen, allen voran die SPD. Aber auch in die, ließ er wissen, werde er nicht eintreten. Da steht schon sein Lebenslauf dagegen. Die Volksarmee hat er nach drei Jahren als wegen „Pluralismus“ zum gemeinen Soldaten degradierter Leutnant verlassen: „Individualist und Querdenker, das waren damals Schimpfworte.“
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