Europa wieder unter sich

Bei der heute in Portugal beginnenden ersten Europameisterschaft schmoren die alten, stagnierenden Handballnationen im eigenen Saft  ■ Von Matthias Kittmann

Berlin (taz) – Handball-Europameisterschaft? Ach ja, die gibt es ja auch noch. Falsch – die gab's vorher noch nie. Ja, aber... es spielen doch Rußland, Schweden, Frankreich, Spanien, Dänemark, Deutschland und all die anderen sechs mit, die auch sonst immer mitspielen? Genau. Aber dieses Unternehmen firmierte bislang unter dem Titel Weltmeisterschaft. Und was soll jetzt diese EM in Portugal (3. bis 12. Juni)? Gute Frage. Die Beantwortung streift so interessante Themen wie Vereinsmeierei in Tateinheit mit Cliquenwirtschaft, Eigenbrötlerei und das beliebte Spiel „Europa gegen den Rest der Welt“.

Es war einmal ein Weltverband, Internationale Handball Federation (IHF) genannt, der mächtig Glück hatte, daß an diesem Spiel, „das Ausdauer-, Sprung- und Wurfkraft erfordert, und bei dem es vor allem auf ausgefeilte Wurf- und Fangtechnik ankommt“ (Sport-Brockhaus), gar nicht die ganze Welt mitmachen wollte. Die zivilisierten Europäer blieben unter sich, und das, so fanden die älteren Herren des Verbandes, war auch gut so. Mal wurde Jugoslawien, mal die UdSSR, mal die Bundesrepublik, mal die Schweden und mal die DDR Weltmeister oder (seit 1972) Olympiasieger. Doch so tolerant man sich den Kommunisten gegenüber zeigte, so unnachgiebig war man in bezug auf die Bewohner anderer Kontinente.

Aber dann ergab es sich, daß aufmüpfige Koreaner innerhalb von vier Jahren Handball lernten und 1988 in Seoul auch noch die Silbermedaille holten. Mehr als ein Betriebsunfall. Denn das Schlimmste war: Sie spielten auch noch erfrischend guten Handball. Das wiederum ermunterte andere Nationen außerhalb Europas, auch mal den kleinen Lederball in die Hand zu nehmen. Da hatte man den Salat. Nun tauchten bei den Weltmeisterschaften plötzlich Amerikaner und gar Afrikaner auf. Und die wollten natürlich sowohl einen Platz in der IHF als auch noch mehr Plätze für ihre Teams bei der WM. Gegen Amerikaner zu spielen, das ginge ja noch, aber gegen Ägypter? Den Herrenmenschen der europäischen Handballsektion ging das über die Hutschnur. Sie kreierten die Europameisterschaft, und alles ist wie früher – fast.

Denn der frische Wind, den die anderen mitgebracht hatten, ist damit wieder eingeschlafen. Vor 15 Monaten wurde an dieser Stelle in einer Analyse festgestellt, daß der Patient Handball am Tropf hängt. Seit Jahren stagniere der Sport, weil ideenloser Krafthandball und zunehmende Spezialisierung dieses Spiel zutiefst unattraktiv machen. Daran hat sich kaum etwas geändert. Der Patient ist bestenfalls aus dem Koma erwacht. Denn immerhin werden die Schwächen jetzt auch von einigen Verantwortlichen erkannt.

Bundestrainer Arno Ehret zum Beispiel, selbst einer aus der Generation, als Handball noch gespielt und nicht gearbeitet wurde: „Wir müssen aufpassen, daß unsere Sportart nicht zur Rennerei verkommt.“ Und er beweist Realismus, wenn er die Möglichkeiten seines EM-Teams einschätzt: „Wir haben derzeit keine Weltklassehandballer. Unser Nahziel ist deshalb, solides Handwerk abzuliefern.“ Was soll der Bundestrainer auch machen, wenn schon in Jugendmannschaften Zweizentner- Muskelprotze dominieren, die zwar die griechisch-römische Hebetechnik beherrschen, aber bei einem Tempogegenstoß den Ball verlieren?

Ex-Bundestrainer Petre Ivanescu analysiert noch saftiger. „Ich glaube, nein, ich bin sicher, wenn der Handball so weiter läuft, geht er kaputt“, grantelte er nach dem Pokalturnier in Flensburg. Und er zog weiter vom Leder: „Die meisten Tore von außen sind irregulär, die Hälfte aller Treffer wird nach Schrittfehlern erzielt“, und ohnehin müßten die meisten Aktionen wegen Foulspiels abgepfiffen werden. Kein Wunder, daß sich viele Zuschauer von dieser Kraftmeierei mit Grausen abwenden. Denn noch eines geht diesem Sport zur Zeit ab: Es fehlen schlicht und einfach Spielerpersönlichkeiten, die das Publikum durch mitreißende Aktionen begeistern können. Für einen durchschnittlichen Handballinteressierten ist die Liste der aktuellen Nationalspieler ein Buch mit weißen Seiten. Bei Namen wie Stefan Hecker, Mike Fuhrig oder Martin Schwalb bleibt man vielleicht noch hängen, aber das war's dann auch schon. Torhüter Andreas Thiel, „der Hexer“, ist der letzte der ehemals glorreichen Sieben, doch der hat sich am Ende der Saison schwer verletzt. Er fehlt dem Team auch und besonders als Charakterkopf und Persönlichkeit.

Das Abschneiden von Ehrets Mannschaft in der Gruppe A in Lissabon ist somit völlig offen. Gegen Rußland, Frankreich, Rumänien, Kroatien und Weißrußland können die Deutschen genauso gut Zweite (Einzug ins Halbfinale) wie Vorletzte werden. Darüber kann auch der Sieg beim Vierländerturnier in Hamburg nicht hinwegtäuschen. Problematisch wird es auch für Eltern mit jüngerem Nachwuchs bei den nachmittäglichen Live-Übertragungen. Denn Gewalt im TV sollte nur in Begleitung Erwachsener konsumiert werden.