: Der diskrete Tanz um die Widersprüche
■ D. Witkowski vom Umfrageinstitut SOFRES über den französischen Wahlkampf
taz: Ist Europa in Frankreich überhaupt ein Wahlkampfthema?
Didier Witkowski: Bislang gibt es so gut wie gar keinen Wahlkampf, die Kampagne ist äußerst diskret. Und über Europa wird schon gar nicht geredet. Zwei abtrünnige Politiker, der ehemalige Sozialist Jean-Pierre Chevènement und der Rechte Philippe de Villiers, haben eigene Listen aufgestellt, die sie ausdrücklich mit der Ablehnung einer bestimmten Idee von Europa begründen. Doch Europa als Wahlkampfthema zieht nicht: Keine dieser beiden Listen hat es bisher geschafft, die Leute zu mobilisieren.
Warum wird Europa nur negativ behandelt?
Das liegt an den vielen Widersprüchen, die sie verdecken müssen. Selbst der äußerst proeuropäische Listenführer der Rechten, Dominique Baudis, muß Rücksichten nehmen. Baudis ist der gemeinsame Spitzenkandidat der neogaullistischen RPR, die ihrerseits in Sachen Europa völlig gespalten ist, und der proeuropäischen UDF (liberalkonservativ, d. Red.). Daher sagt er in seinen Reden fast nichts über die Zukunft Europas.
Inzwischen hat er sogar seine Meinung hinsichtlich einer europäischen Föderation gewechselt: zuvor war er sehr föderalistisch eingestellt, jetzt nicht mehr. Der sozialistische Spitzenkandidat Michel Rocard kämpft ebenfalls mit einem Widerspruch: Als ehemalige Regierungspartei haben die Sozialisten zehn Jahre lang dazu beigetragen, ein liberales Europa zu konstruieren. Nun spricht Rocard vom solidarischen Europa. Für ihn ist es jedoch schwierig, das Europa abzulehnen, für das die PS mit verantwortlich ist.
Was erwarten – oder befürchten – die Franzosen denn von Europa?
Wenn wir sie nach ihrer Haltung gegenüber dem Bau der Europäischen Union fragen, stellen wir fest, daß ihre Zweifel wachsen. Die Zahl derjenigen, die auf Europa vertrauen, überwiegt heute nur noch knapp. Die Franzosen fürchten die Öffnung der Grenzen und die Konkurrenz. Sie rechnen damit, daß die Unternehmen in Länder abwandern, wo es billigere Arbeitskräfte gibt. Daher sorgt sie auch der Gedanke an einen Beitritt osteuropäischer Länder.
Welche Auswirkungen hatte die zeitweilige Drohung des Intellektuellen Bernard-Henri Lévy, eine Sarajevo-Liste aufzustellen?
Lévy ist es gelungen, die Bosnien-Frage zum dominanten Thema zu machen – dem einzigen in diesem Wahlkampf. Zuvor war die Bosnien-Frage nicht so direkt als europäisches Problem gesehen worden. Mit seiner Initiative ist es ihm gelungen, diese Verbindung herzustellen. Dabei fordert Lévy nicht einmal eine gemeinsame Aktion der Europäischen Union, um gemeinsame militärische Operationen zu ermöglichen. Er nutzt den Wahlkampf nur, um die französischen Parteien in die Enge zu treiben. Ansonsten gibt es eigentlich keine Themen. Die Linke verlangt eine gemeinsame Sozialpolitik, während die Rechte für eine weitere Öffnung der Grenzen und die gemeinsame Währung eintritt, aber selbst dieser Gegensatz ist kaum sichtbar.
Das Gespräch führte Bettina Kaps, Paris
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