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Kindersuizid – Rückzug in den Tod

Selbstmord unter Kindern Jugendlichen ist tabuisiert /Nicht der jugendliche Selbstmörder ist verrückt, sondern seine Umgebung  ■ Aus Loccum Anita Kugler

Tom Sawyer brauchte sich nicht umzubringen, obwohl er gerade die Ungerechtigkeit seines Lebens erleiden mußte. Die immer gute Tante Polly hatte nicht, wie es rechtens gewesen wäre, seinen braven Bruder Sid verprügelt, sondern aus alter Gewohnheit ihn. Mit dieser Demütigung kann und will er nicht mehr weiterleben. Er würde jetzt gehen, um sich im Mississippi zu ertränken. Aber je intensiver er sich vorstellt, wie er als Wasserleiche am Ufer liegt und Tante Polly sich weinend über seinen bleichen Körper wirft, desto mehr bessert sich Toms Laune.

Todesphantasien sind häufig

Die Freude über Tante Pollys Unglück heilt sein verletztes Selbstwertgefühl. Ihre Verzweiflung zeigt ihm in seiner Phantasie: Tante Polly liebt mich doch.

„Todesphantasien gehören zum Leben“, sagt Michael Witte, Mitarbeiter von „NEUhland“, einer Modell-Beratungsstelle in Berlin für selbstmordgefährdete Kinder und Jugendliche. Gefährlich wird es erst, wenn sie ins Leere geht, wenn die Jugendlichen nicht mehr wissen, ob ihr Tod die Eltern freut, sie gleichgültig läßt oder ob sie weinen. „Als ich mich zum Selbstmord entschlossen habe, ging es mir besser“, hatte ihm ein 16jähriges Mädchen erzählt, „denn das war endlich eine klare Entscheidung“. Ihr Selbstbewußtsein fand sie wieder, berichtete Witte auf einer vom niedersächsischen Kultusministerium initiierten Tagung in Loccum, weil sie stolz darauf war, die Lebenskrise gemeistert zu haben. Der Versuch, sich umzubringen, sagt er, sei der Hilfeschrei: „Laßt mich nicht allein.“ Nicht die schlechte Zensur, nicht die unglückliche Liebe, nicht eine akute Mißhandlung treibe die Kinder und Jugendlichen in den Freitod, sondern die Beziehungsleere führe zum endgültigen Rückzug auf sich selbst.

Aggressionen, die nicht mehr nach außen gerichtet werden können, richten sich irgendwann gegen den, der sie nicht mehr los wird, sagt auch die Psychoanalyse. Der Selbstmord stehe immer am Ende einer langen Leidensgeschichte, sei immer ein Versuch, Beziehungen zu beeinflußen. Denn: Nicht der, der sich töten will ist verrückt, sondern die Umgebung ist es.

Aber nicht alle Suizidgefährdeten haben die Kraft, sich am eigenen Schopf aus dem Unglück zu ziehen, die Umgebung zu „verrücken“. 13.458 Menschen brachten sich 1992 in Deutschland um, davon sieben Kinder unter 10 Jahren, 31 Kinder zwischen 10 und 15 und 234 Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren. In der Altersgruppe bis 25 Jahre schnellte die Zahl der Selbsttötungen auf 603 hoch. Nach Unfällen ist der Suizid, obwohl die Zahlen seit 1990 Jahr für Jahr sinken, immer noch die zweithäufigste Todesursache bei Heranwachsenden. Aber diese Statistik – eine neuere gibt es noch nicht – taugt nicht viel, sagen die Experten. „Diese Zahlen dienen nur dazu, die Wirklichkeit auf schön zu kaschieren und die Arbeit von Sozialpädagogen zu legitimieren“, sagt Manfred Busch vom „Verband sozialtherapeutischer Einrichtungen e.V.“ in Celle. Die Dunkelziffer sei sehr hoch, gerade bei Kindern und oft in scheinbar stabilen Familien. Hier würden die Notärzte oft Unfälle in die Todesscheine schreiben, sei es, weil sie nicht nachfragen, sei es, um den Eltern die Scham zu ersparen.

Für völlig unwahrscheinlich hält es auch Hartmut Schäfer, Beratungsstellenleiter in Walsrode, daß sich 1992 „nur“ sieben Kinder umgebracht haben sollen. Die Zahl sei nur deshalb so niedrig, weil sie laut herrschender Meinung, kein „Todesbewußtsein“ haben. Aber es ist, so berichtet er aus seiner Praxis, „höchst unwahrscheinlich, daß ein Siebenjähriger unabsichtlich Reinigungsmittel trinkt oder von einer Brüstung fällt“. Niedrige Zahlen beruhigen das Gewissen, kommentiert er böse. Genau deshalb, so sagt es auch Manfred Busse, habe die DDR 1961 die Selbstmordstatistik abgeschafft und die CDU-Regierung 1965 die Meldepflicht für Suizidversuche. Denn erst sie würde schmerzhaft zeigen, daß das Bild der heilen Familie immer Selbstbetrug war und ist.

Hinter jeden Selbstmord stehen 20 bis 30 Versuche

Insgesamt, so war in Loccum zu hören, stehe hinter jedem vollendeten Suizid 20 bis 30 Suizidversuche und das sei eine sehr vorsichtige Schätzung. „Wir wissen nicht, wie viele Jugendliche in suizidaler Absicht Verkehrsunfälle provozieren“, räumte Klaus Kunze, Jugendbeauftragter beim niedersächsischen Landeskriminalamt ein. Diese Dunkelziffer ist vor allem bei jungen Männern hoch, berichtete Witte. Die Suizidprävention erreicht sie nicht, weil männliche Jugendliche den Tod konsequenter suchen als Mädchen. Sie inszenieren ihn brutaler, springen von Dächern oder erhängen sich. Mädchen hingegen, suchen das „weiche“, das heißt „langsame“ und deshalb abzuwendende Ende. Sie schlucken Tabletten, ritzen sich die Pulsadern auf, mnachmal in fast religös anmutenden Zeremonien. „Aber es gibt keine harmlosen Suizidversuche“, so ein Fazit der Loccumer Tagung, die Ambivalenz zwischen Tod und Leben wird von Jugendlichen viel stärker erfahren, als Erwachsene ihnen zutrauen. Das Problembewußtsein über Todeswünsche müsse geschärft und die medizinischen und psycho-sozialen Kriseneinrichtungen miteinander vernetzt werden. Und Schulfächer, so sagen die Lehrer, die wie Musik, Kunst oder Sport das Selbstwertgefühl steigern, müssen neue Priorität gewinnen.

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