piwik no script img

Die beständige Angst vor dem nächsten Funken

■ Fünf Jahre nach dem Massaker am Tiananmen-Platz in Peking stehen Chinas Militär und Geheimpolizei bereit, um jede Kundgebung zu unterdrücken. Die Regierung fürchtet heute aber vor allem die...

Fünf Jahre nach dem Massaker am Tiananmen-Platz in Peking stehen Chinas Militär und Geheimpolizei bereit, um jede Kundgebung zu unterdrücken. Die Regierung fürchtet heute aber vor allem die immer häufigeren Arbeiterproteste.

Die beständige Angst vor dem nächsten Funken

Aus Protest gegen niedrige Bezahlung und elende Arbeitsbedingungen bestreiken 20.000 Bergarbeiter in der nordostchinesischen Provinz Heilongjiang die staatlichen Kohlegruben. In der nahe gelegenen Provinz Liaoning treten 6.900 Arbeiter einer japanisch geführten Autofabrik für zwei Tage in den Streik für höhere Löhne und mehr freie Tage. Mehr als 2.000 Fabrikarbeiter in der Zhuhai-Wirtschaftszone im südlichen Guangdong legen für drei Tage die Arbeit nieder, um eine Lohnsenkung abzuwenden. In Peking wenden sich dreihundert FabrikarbeiterInnen mit einer Petition an die Regierung, noch ausstehende Löhne anzuweisen. Ihr Protest wird gewalttätig, als ein frustrierter Arbeiter einen Funktionär mit einem Hackbeil angreift.

Aus dem ganzen Land kommen in diesen Monaten die Nachrichten über Streiks und Arbeiterproteste – und sie werden immer häufiger. Vor genau fünf Jahren demonstrierten Millionen chinesischer BürgerInnen und StudentInnen gegen die Regierung und für mehr Demokratie. Heute fürchtet die Kommunistische Partei nicht die StudentInnen und Intellektuellen. Sie hat Angst vor ArbeiterInnen, die gegen die Inflation protestieren, die jene des Jahres 1989 noch übersteigt. Sie fürchtet deren Zorn über die Korruption der Funktionäre, über Entlassungen aus illiquiden Staatsbetrieben. Die Behörden sind so nervös, daß sie eine eiserne Kontrolle über die Hauptstadt verhängt haben: Die Wohnungen von Dissidenten sind zu wahren Polizeifestungen geworden. Ausländische JournalistInnen werden streng überwacht, Gespräche in Fabriken oder mit Arbeiteraktivisten werden aus Furcht vor Sanktionen abgesagt.

Die ArbeiterInnen haben begonnen, sich dagegen zu wehren, daß ihre Arbeitsplätze – und die damit verbundene soziale Absicherung – verlorengehen. „Die Armut der Arbeiter ist wie trockenes Reisig. Ein kleine Funke kann einen Großbrand auslösen“, sagt ein Funktionär in Tianjin. Offiziell wird erwartet, daß sich die städtische Arbeitslosigkeit in diesem Jahr von 2,5 auf 3 Prozent erhöhen wird. Das sind 5 Millionen, die entlassen werden und 1,8 Millionen, die auf staatliche Sozialhilfe angewiesen sind, schreibt die Pekinger Volkszeitung. Schätzungsweise zehn Prozent der 120 Millionen Menschen, die in den maroden Staatsbetrieben arbeiten, werden nicht rechtzeitig – oder überhaupt nicht – bezahlt. Die große Zahl der Landflüchtigen verschärft die Lage: Auf dem Lande wird die Arbeitslosigkeit auf dreißig Prozent geschätzt. Die Regierung hat zugegeben, daß Arbeiterproteste im vergangenen Jahr um 52 Prozent auf mehr als 12.000 Fälle anwuchsen. Zusätzlich berichtete die Hongkonger Presse über weitere sechstausend illegale Streiks und zweihundert Aufstände.

Alarmiert warnte Präsident Jiang Zemin kürzlich in einer Rede, daß „die Arbeiter nicht auf die Straße getrieben werden dürfen“. Um das zu verhindern, hat die Pekinger Führung die Abwicklung von staatlichen Unternehmen verlangsamt. Obwohl das Defizit des öffentlichen Haushaltes wächst, gibt die Regierung weiterhin viele Millionen für die Subventionierung der Staatsbetriebe aus – von denen mehr als die Hälfte Verluste machen. Um bis zum 4. Juni weitere Entlassungen und damit möglicherweise einhergehende Unruhen zu vermeiden, wurde der Verkauf pleite gegangener Staatsbetriebe vorübergehend gestoppt.

Zwar hat die Regierung angeordnet, daß in allen Joint-ventures mit ausländischer Beteiliung Arbeitervertretungen eingerichtet werden sollen. Doch „bei den meisten Arbeitskonflikten in Joint- ventures stellen sich die lokalen Behörden auf die Seite der ausländischen Geschäftsleute. Sie fürchten, daß diese sonst ihre Investitionen abziehen“, sagt ein chinesischer Spezialist für Arbeiterfragen in Peking. Immer mehr Arbeiter geraten in die Verelendung, sagen chinesische Beobachter. Eine im vergangenen Jahr vom offiziellen Chinesischen Gewerkschaftsverband – der einzig legalen Gewerkschaft – in Auftrag gegebene Untersuchung zeigt, daß mehr als zwei Millionen ArbeiterInnen in neun Provinzen und Großstädten in Armut leben. „Wenn die Regierung und die Partei es nicht schaffen, sich um die Bedürfnisse der Arbeiter zu kümmern, dann widerspricht dies den kommunistischen Prinzipien“, sagt ein Regierungsfunktionär, der entlassene Arbeitskräfte betreut.

In Tianjin, einem industriellen Zentrum gut hundert Kilometer östlich von Peking, versammeln sich immer wieder Gruppen von Arbeitslosen, die weniger als umgerechnet 20 Mark Stütze im Monat bekommen, vor den städtischen Ämtern, um um neue Jobs oder einfach nur Lebensmittel für ihre Familien zu bitten. Häufig kommt es unter den mehr als eine Million Arbeitskräften der 3.000 staatlichen Unternehmen zu Arbeitsniederlegungen. Ein Funktionär in der Stadt sagt, er habe sehr viele Familien besucht, wo es kaum etwas zu essen gab und kein Geld. Ein Rentner, ehemals Parteisekretär in einer Fabrik, verlor sein monatliches Einkommen, als der Betrieb dichtmachte. Er hat jetzt keinerlei Einkommen für sich und seine behinderte Tochter. „Er kann nichts anderes tun, als ruhig dazusitzen und auf den Tod zu warten“, meint der Funktionär.

„1994 wird ein katastrophales Jahr für die Staatsbetriebe“, sagt ein chinesischer Gewerkschaftler voraus. „Große, landesweite Streiks sind jedoch unwahrscheinlich“, fügt er hinzu. „Bislang sind die Arbeiterproteste noch auf mittlere und kleine Staatsbetriebe beschränkt. Und es hat noch keine Streiks gegeben, die mit politischen Forderungen verbunden sind oder einen gesamten Industriezweig erfaßt haben. Streikende ArbeiterInnen sind bislang noch nicht klassenbewußt.“ Sheila Tefft, Peking

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen