piwik no script img

Das Weltreisetheater des Bernd H. Dinter

■ Heiner Müllers „Medeamaterial“ wurde in Rußland erstaufgeführt

Beinahe in der Mitte Rußlands, im Süden Sibiriens, liegt die Industriestadt Novosibirsk mit anderthalb Millionen Einwohnern, zehn Theatern und einem im Graben gelandeten und geplünderten Range Rover mit deutschem Kennzeichen. Auf nahezu hundert Kilometern Durchmesser ist Novosibirsk eine endlose Ansammlung von Fabriken und Siedlungen, zudem Ort einer ansehnlichen Konzentration von „neuer Kriminalität“. Mitten im „russischen Chicago“ befindet sich das Drama Theater Novosibirsk, das vergangenen Oktober die russische Erstaufführung von Heiner Müllers „Medeamaterial“ besorgte – inszeniert, ausgestattet, kostümiert und choreographiert vom deutschen Weltreise-Regisseur Bernd H. Dinter. Soeben gastierte das Stück in Frankfurt, am 11. und 12. Juni wird es am Berliner Ensemble zu sehen sein. Eine Tournee nach Israel und New York ist geplant. Danach soll eine russische Rockoper mit Brian Eno in Moskau und eine Ballettversion des „Medeamaterials“ in japanischer Koproduktion versucht werden.

Dinter, der 35jährige deutsche Weltenbummler, der schon auf Jamaika und in der Dominikanischen Republik inszenierte und als ausgebildeter Theaterpädagoge und Zauberer bei Günther Krämer in Bremen Regie gelernt haben will, stapft durch Müllers Medeamaterial in Siebenmeilenstiefeln mit seltsamen Absichten, großen Augen und wenig Geschmack. Er gehört zu den bislang fast unbeachteten deutschen Fernreisenden, die sich durch das Goethe-Institut als Regisseure empfehlen lassen und wahlweise in Kamerun oder Kuba kleine Inszenierungen besorgen. Sie verdingen sich als Facharbeiter, oft und auch in diesem Fall den Repressalien der Regierenden ausgesetzt. Gleichwohl gilt deutsches Theater weltweit als führend, das notwendige Organisations- und Improvisationsgeschick haben sie parat.

Doch was kommt dabei heraus? Müllers „Medeamaterial“ ist der russischen Balalaika- und Stanislawski-Seele so fremd wie ihr die Ikonen des Westens zum Greifen nah erscheinen. Medeas Amme ist Marilyn Monroe, die sich zuckersüß und unaufhörlich auf einer Rolle Film räkelt. Gleich zweimal steigt sie über einen Lüftungsschacht und hält das weiße, aus Deutschland angereiste Marilyn- Kostüm über den Ventilator. Die bei Müller nicht vorgesehene Glauke ist Rita Hayworth, sie stakt wortlos einen „ägyptischen Tango“ über die Bühne: Dinter nennt derlei Bildwelt die „russische Sehnsucht nach dem Westen“. In Deutschland wäre es eine einfallslose Reminiszenz an die fünfziger Jahre. Die Sechziger werden mit „Brillo“-Packungen illustriert, die Siebziger mit der Musik des „Alan Parsons Project“, die Achtziger illuminieren sich qua grüner Neon-Leuchten. Die Neunziger hatten wir noch nicht – in Novosibirsk stört's keinen.

Die Sehnsucht nach dem Westen scheint Wunsch, Wille und Auftrag ans deutsche Theater. Der Mißbrauch liegt nahe. Deutsche Regisseure könnten im Ausland zur Befriedigung dieses Ansinnens jedwedes Unwesen treiben. Darum gerät hierzulande Dinters Gastspiel zur Mutprobe und in Verdacht, den Russen bei allem Widerstand des sibirischen Gouverneurs gegen die Aufführung vielleicht doch nur faulen Zauber verkauft zu haben. Sein Scheitern basiert nicht auf technischen Schwierigkeiten oder schauspielerischem Unvermögen. Entschuldigen läßt sich allein das Operettenhafte der Darbietung. Darauf mag die Leiterin des Drama Theaters, Nelli Novitzkaja, bestanden haben. Wie überall ist auch im armen Novosibirsk der Broadway näher als Heiner Müller.

Doch Müllers Text als Abbruchhalde für kitschige Illusionen? Westlicher Exotismus gepaart mit Müllers Zweifeln? In den wunderschönen Gesichtern der Schauspielerinnen glimmt die Erwartung eines großen Abends. Man mag sie nicht enttäuschen. Aber alles ist nur nett gemeint und nichts präzis realisiert. Das Spiel mit der monologischen Sprache Müllers ist ein beliebiges Aufsageterzett (zumal Dinter gesteht, kein Wort des Gesprochenen zu verstehen); das erotische Medeaspiel als pantomimisch-blasphemische Etüde à la Beckett über das Zeugen, Gebären und Sterben wird deklamiert, doch, um Gottes willen, nicht hergezeigt. Eine Beziehung der Schauspieler zum fremden Text ist an keiner Stelle sichtbar; Müller bleibt für sie ein exotisches Gedicht, das vorgetragen wird, während – aus lauter Hilflosigkeit – überflüssige 50 Nummernkärtchen auf den Bühnenboden gestellt und danach wieder umgekippt werden. Dieses Sandkastenspiel hat, beim Barte Stanislawskis und der rasierten Wange Heiner Müllers, selbst im tiefsten Sibirien kein Mensch verstanden. Arnd Wesemann

Heiner Müller: „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“. Regie: Bernd H. Dinter. Mit Chalida Ivanova / Vera Segejevna, Sergej Besrodnych, Jelena Novoselova, Irina Smoljakova. Das Gastspiel des Dramaticeskij Teatr Novosibirsk/ Sibirien ist am 11. und 12. Juni um 20 Uhr im Berliner Ensemble zu sehen. Am 11. Juni findet nach der Aufführung eine Diskussion mit H. Müller, Bernd H. Dinter und dem Ensemble statt (Simultanübersetzung).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen