: Ein Rätsel für Europa
■ Am 12. Juni stimmen die Österreicher über den EU-Beitritt ab – sie werdens überleben
Der Wunsch der Fernsehleute fand keine Gnade. „Nein, nein, drehen sollten Sie dort drinnen nicht, sonst sehen die Leute zu Hause den Herrn Minister wieder mit einem Glas in der Hand.“ Schwergewichtig rudert der Türsteher mit den Armen. Draußen in Güssing tagt der Bauernbund, die Landwirte wollen vom Minister Franz Fischler hören, was er zu Österreichs Agrarpolitik am Vorabend des EU-Beitritts zu sagen hat. Ein nervös rauchendes und flüsterndes Regierungsmitglied, das nach zahllosen Schmähungen wie ein begossener Pudel dasteht, nein, das ist kein Anblick zur Stärkung der nationalen Identität. Wenn schon, dann soll der Auftritt einen wohlwollend-harmlosen Eindruck auf dem Bildschirm hinterlassen.
Aber die Bauern sind wütend. Ihnen beschert die Mitgliedschaft Österreichs in der EU nicht nur Einkommenseinbußen von rund einer Milliarde Mark im Jahr, sie müssen auch noch befürchten, bald als die letzten Exemplare einer aussterbenden Gattung im Heimatmuseum zu landen. Das prophezeit ihnen der Abgeordnete Murer von der Freiheitlichen Partei Österreichs, den Liberalen, die mit ihrem Chef Jörg Haider an den rechten Rand gerückt sind. Die Agrarpreise liegen noch durchschnittlich 15 Prozent über denen des europäischen Auslands. Da tröstet es niemanden, wenn die Agrarpolitiker verkünden, sie hätten viel Geld aus den Brüsseler Töpfen geholt und könnten den Ausfällen exakt 1,9 Milliarden Mark Hilfe gegenüberstellen. Schon heute gehen in Österreich jeden Tag neun Höfe ein, wie soll das erst in der EU werden? „Ich könnte nicht in Ruhe alt werden, wenn wir an diese Rasselbande verkauft würden!“, raunzt ein Älpler.
Was den Bauern recht ist, kann der konservativen Wiener Bürgerseele nur lieb sein. Im Beisel liebt man echte Kerle, die den Kopf auch dann hochnehmen, wenn sie beim Schnapsen den ganzen Abend nur verlieren. „Europa, was bringt ma des?“ murrt die Herrenrunde, die Bierseidel fest in der Hand. Das allein zählt. Gar nicht anfreunden mag man sich mit den Kompromissen beim Alpentransit, der Landwirtschaft und dem Grundverkehr. Selbst die Horrorszenarien aus Wirtschaft und Industrie, nach denen eine Ausgrenzung Österreichs aus der Wirtschaftsgemeinschaft Zehntausende von Arbeitsplätzen und einen Teil des erreichten Wohlstands kosten würde, lassen kalt. Schnell werden aus Sachfragen irrationale Befürchtungen – vor allem, wenn es um die „Heimat“ geht, die „geschützt“ werden muß vor ausländischen Lastern, südländischen Billigprodukten und reichen Piefkes.
Die Union als Monster, das ausgemergelte Bergbauern verspeist, die Alpen für zwanzigspurige Highways abtragen läßt, wäßriges Einheitsgemüse, Atomtomaten und Kunstkäse auftischt? Und ständig nach Blutschokolade lechzt? Das Ekel-Konfekt ist ein Symptom dafür, wie irrational die Debatte geführt wird. Ein winziger Fernsehfilm über britische Versuche, aus Blutplasma eßbare Substanzen herzustellen, setzte eine Gerüchteküche über die systematische Vergiftung durch gewissenlose Konzerne in Gang.
Dagegen läßt sich schwer ankommen, weiß Brigitte Ederer, Staatssekretärin für Europafragen. Seit dem Heldendrama der Brüsseler Verhandlungen weist die Popularitätskurve Europas beständig bergab. In einer kürzlich präsentierten Umfrage erklärten sich gerade noch 46 Prozent der Österreicher für einen Beitritt – Anfang April waren es noch knapp 50 Prozent gewesen. Die bekennenden EU-Gegner haben derweil von 26 auf 36 Prozent zugelegt. Für die Parlamentswahlen im Herbst haben die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP Schlimmes zu befürchten. Während sich Bundespräsident Thomas Klestil, Kanzler Franz Vranitzky und Alois Mock, EU-Vorkämpfer und Außenminister, darüber streiten, wer denn nun die Unterschrift unter den Vertrag setzen darf, schicken die Politiker hinter den schönbrunn- gelben Tapetentüren am Ballhausplatz Stoßgebete zu Himmel.
Daß nichts dem Zufall überlassen bleibt, dafür hat das EU-Kartell gesorgt. Mit einer 10 Millionen Mark teuren Kampagne, der größten in der Zweiten Republik, will die schwarzrote Koalition auch die letzten Widerspenstigen zähmen. Da werden die Politiker vom Minister bis hinunter zum Bürgermeister durch die Wirtshäuser gejagt, um gegen Xenophobie, Angst vor dem Rätsel Europa und wirtschaftlichen Umbrüchen anzureden. Ob Landfrauen, Architekten, Arbeiterkammervertreter oder Lions- Club – kein Grüppchen ist so unbedeutend, daß seine Europa-Gesinnung nicht ausgelotet werden muß. Die SPÖ-Funktionäre laufen sich bei der Aktion „tausend Füße“ auf Parteiveranstaltungen die Hacken schief, es hagelt Papier: Broschüren, Infomappen, Bücher, Plakate, Aufkleber, blau-gelbe Fähnchen und Disketten, ein alles in allem rund 30 Kilo schweres Aufklärungspaket. Nicht zu vergessen die Euro-Werbung, für die jeder auch nur halbwegs bekannte Österreicher abgelichtet wird. „Was fünf vor zwölf gewonnen wurde, soll nicht fünf vor zwölf verloren werden“, warnt „Mister Europa“ Alois Mock von der Österreichischen Volkspartei.
Wer immer noch nicht genug hat, kann sich vertrauensvoll an eine der 44 Servicestellen wenden – an die Nummer 0660/6363 etwa, zum Ortstarif. In der Leitung knackt es. Dann meldet sich eine säuselnde Frauenstimme: „Hier ist das Europa-Telefon der Bundesregierung. Bitte haben Sie etwas Geduld, im Moment sind alle Leitungen belegt.“ Endlich meldet sich, gereizt, eine andere Stimme. Einen vollen Achtstundentag – da gehen selbst den abgebrühten Europa- Experten gelegentlich die Nerven durch. Ob es denn klüger sei, den Kühlschrank erst nach dem EU- Beitritt zu kaufen? Ob auch die Krim-Tataren Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt erhielten? Ob Witwen mit höheren Leistungen rechnen könnten? Ein Versuch, die menschlichen Stimmen durch einen Computer zu ersetzen, scheiterte kläglich. Die Begrüßungsformel „Hier ist der intelligente Computer des Europa-Telefons“ ließ die Anrufer sofort den Hörer in die Gabel knallen.
Abwehrreflexe mehren sich. Ob die Arbeiter des nationalen Zuckerkartells, die 2.000 Zollbeamten oder die 220.000 Bauern: ihre Anliegen werden nur symbolisch befriedigt. Und wer kann schon beurteilen, ob das EU-Aktienrecht und die Erklärungen zur Produktsicherheit erstrebenswert sind?
In den Kaffeehäusern, wo die Wiener nicht zu Hause und doch nicht in der frischen Luft sein müssen, dreht sich alles um die Leibgerichte. Zwar hat man bei den Verhandlungen in Brüssel für eine kulinarische Abgrenzung gegen Großdeutschland gesorgt. So darf der Erdäpfelsalat weiter Erdäpfelsalat heißen und ebenso bleibt der Karfiol, das Fachierte und die Burenwurst erhalten. Und, Gott sei's gedankt, auch der Topfenpalatschinken muß nicht als Quarkpfannkuchen auf der Euro-Speisekarte erscheinen. Doch die Feinschmecker trauen dem Frieden nicht. Sollen jetzt alle Mehlspeisen wie französisches Baguette schmecken? Warum gegen Europa gestimmt wird? Ganz einfach: „Weil der Kanzler, die Parteien und die Organisationen die Österreicher für dumm und blöd verkaufen“, sagt ein Ober und läßt sein Gesicht in breite Zufriedenheit auseinanderfließen. Manch einer fühlt sich an die Volksabstimmung 1978 über das Atomkraftwerk in Zwentendorf erinnert, bei der die Österreicher mit ihrem Nein der damaligen SPÖ-Alleinregierung einen Denkzettel verpaßten.
Das motiviert die Nein-Sager. Die Allianz der EU-Kritiker reicht von Jörg Haiders blauer Gefolgschaft über Bauernvertretungen, merkwürdige Bürgerrechtler und national-konservative Kirchenkreise bis zu den Grünen und den Kommunisten. An der Spitze steht Einzelkämpfer und täglich Alles- Verleger Kurt Falk. Heimattümelei, Fremdenangst und teilweise hanebüchene Argumente dienen als Köder. In Traktätchen und Wurfsendungen wird behauptet, die Brüsseler Kommissare dürften, wenn sie nur wollten, den Goldschatz der Wiener Nationalbank abtransportieren und das gute Alpenwasser in südliche Trockengebiete umleiten.
Brüssel – das ist das Böse, zu dessen endgültiger Unterwerfung auch andere Grufties ihre Auferstehung feiern. Vielleicht der Bekannteste von ihnen ist der Maler Friedensreich Hundertwasser. Er, der viele Angehörige in den KZs der Nazi-Schergen verlor, setzt bewußt auf Analogien mit dem Dritten Reich. Die EU leide unter Maßlosigkeit und Größenwahn; Österreichs politische Klasse sei nichts weiter als „Handlanger einer internationalen Wirtschaftsmafia“, die EU eine „Titanic“. Apostel Hunterwassers Rat: „So einen Unglücksdampfer besteigt man nicht und vertraut ihm unser Leben und unsere Zukunft nicht an. Da ist es besser, man bleibt in einem kleinen, aber manövrierbaren Boot.“
Aus der braunen Seele heult selbstverständlich auch Jörg Haider mit. Mit seinem Machtanspruch und der unverblümten Parole „Österreich zuerst“ hat der skrupellose Populist es geschafft, selbst die zahlreichen EU-Befürworter in der eigenen Partei auszutricksen. Über Haiders wahre Ziele gibt der schmucke FPÖ-Kalender „Jörg 94“ allerdings weit mehr Aufschluß: Die Blätter zeigen einen strahlenden Sonnyboy, jeweils versehen mit einem Zitat als Monatslosung. Im April hieß es da drohend: „Wir sind die Opposition, die auch regiert“; im Juni, dem Monat der Europa-Abstimmung, wird er noch deutlicher: „Wer in Österreich ein Demokrat ist, entscheidet nicht das ideologische Gruselkabinett in der SPÖ- Zentrale, sondern immer noch der Wähler.“
Aber eben der ist ein Rätsel für den Rest Europas. Als höchst kontraproduktiv erweist sich auch die jüngst von Alois Mock angezettelte Nato-Diskussion. Der Herr des Außenamtes, für den die Österreicher keine Europäer zweiter Klasse werden dürfen, setzte sich ins Fettnäpfchen, als er ausgerechnet auf dem Europa-Kongreß der Grünen eine weitere Volksabstimmung nahen sah – für den Fall, daß sich die rotweißrote Republik an Militäraktionen der WEU beteiligen müsse. Dann freilich stünde das zutiefst emotional besetzte Nationalheiligtum der Österreicher, die Neutralität, zur Disposition. Mock habe den heimlichen Konsens der politischen Zunft gelüftet und ein Zipfelchen der tatsächlichen Folgen eines EU- Beitritts offengelegt, geiferten die EU-Gegner.
„Die Österreicher bleiben Österreicher“, versucht Kanzler Franz Vranitzky zu beruhigen, „wir sollten stolz darauf sein, daß wir unsere Kultur, das spezifisch Österreichische, für das wir in aller Welt berühmt sind, nunmehr in ein größeres Europa einbringen.“ Aber was ist das schon, das spezifisch Österreichische? Nicht mehr als ein neutraler Kleinstaat mit hübschen Landschafen, lieben Menschen und gutem Essen. „Der Österreicher“, schrieb Thomas Bernhard, „hat von allen europäischen Menschen alles und seine Charakterschwäche dazu.“ Wie die Abstimmung auch ausgeht, sie wird auf einem Irrtum beruhen, hätte wohl Bernhard gesagt. Auch das werden die Österreicher überleben wie das Vorbild aller Wiener, der liebe Augustin: Der Dudelsackspieler aus dem Pestjahr 1679 fiel in eine Leichengrube. Dort schlief er seinen kolossalen Suff aus und kletterte putzmunter aus dem Grab wieder heraus. Ende gut, alles gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen