: MüßiggängerInnen, vereinigt Euch!
■ SozialwissenschaftlerInnen wollen mit Arbeitszeitverkürzung gesellschaftliches Reformprojekt anstoßen / Mehr Zeit statt mehr Geld als neues Paradigma
Müßiggang und Vollbeschäftigung – so oder ähnlich könnte das Credo einer neuen ArbeiterInnenbewegung lauten, ginge es nach den Sozial- und WirtschaftswissenschaftlerInnen, die am Mittwoch zum „Kongreß über Arbeitszeitverkürzung statt Massenarbeitslosigkeit“ nach Dahlem ans Institut für Politikwissenschaft eingeladen hatten. Passend zu den neuesten Verkündigungen des Aufschwungs, wollen sie sich in die Debatte einmischen und nicht weniger als ein neues gesellschaftliches Reformprojekt anstoßen. Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen es: Wirtschaftswachstum ist nicht gleichbedeutend mit mehr Beschäftigung. In Zeiten des Wahlkampfs droht diese längst bekannte Tatsache allerdings unterzugehen.
Arbeitszeitverkürzung sei zwar „nicht die Lösung aller Probleme des Kapitalismus“, wie Ingrid Kurz-Scherf (Marburg) zugab, aber umgekehrt hätten alle „Großprobleme“ (Luhmann) unserer Gesellschaft eine zeitpolitische Dimension. Eine weitere Polarisierung zwischen Arm und Reich zu verhindern, die hierarchischen Geschlechterverhältnisse aufzubrechen und eine ökologischere Wirtschaftsweise zu ermöglichen – all dies sollte eine integrierte Politikstrategie der Arbeitszeitverkürzungen leisten.
Und wer soll der Träger einer solchen Strategie sein? Damit die Arbeitszeitdiskussion nicht auf der betrieblichen (VW u.a.) und der individuellen Ebene (freiwillige Teilzeit) versandet, fordern Fritz Vilmar, Peter Grottian, Bodo Zeuner (Otto-Suhr-Institut, Berlin) und Ingrid Kurz-Scherf die Gewerkschaften auf, eine neue arbeitszeitpolitische Offensive zu starten. Nach diesen Visionen legte Hartmut Seifert vom WSI die harten Fakten der „Beschäftigungsarithmetik“ auf den Tisch: Rund eine Million zusätzlicher Arbeitsplätze sind die Bilanz der Arbeitszeitverkürzungen der achtziger Jahre. Ein ähnlicher Effekt ließe sich heute für Westdeutschland bei flächendeckender Einführung der 35-Stunden-Woche erzielen. Durch mehr Teilzeit und weniger Überstunden entstünden weitere Arbeitsplätze. Außerdem müßten bisherige finanzielle Vergütungen für Mehr-, Nacht- und Wochenendarbeit sowie Erschwernis- oder Schmutzzulagen gänzlich in Freizeitausgleich umgewandelt werden.
Mehr Zeit statt mehr Geld, so soll das neue Paradigma lauten. Wie kann man eine solche Wende nun aber den ArbeitnehmerInnen schmackhaft machen? Eine „Utopie der Muße für alle“ schlug Bodo Zeuner vor und meinte damit gerade nicht das, was landläufig unter „Freizeit“ verstanden wird. Diese sogenannte „freie“ Zeit wird nämlich verschlungen von der „alltäglichen Nirwana-Suche im kompensatorischen Konsum“, von „Existenzsicherungsarbeit“ (Christiane Müller-Wichmann), wie zum Beispiel Streitigkeiten mit der Hausverwaltung über die letzte Heizkostenabrechnung, und – natürlich – von Reproduktionsarbeit.
Letztere ist bekanntlich sehr ungleich auf Männer und Frauen verteilt. Hier böten Arbeitszeitverkürzungen die materielle Grundlage für eine Umverteilung, so der Tenor der AkademikerInnen. Allerdings haben die letzten hundert Jahre gezeigt, daß die Hausarbeit – trotz rund fünfzigprozentiger Arbeitszeitverkürzung seitdem – immer noch fast ausschließlich von Frauen gemacht wird. Unabhängig von diesem Problem versuchte Zeuner einen „Zeitwohlstand“ statt des bisherigen „Geldwohlstands“ zu propagieren. Da unsere derzeitige Freizeit angefüllt ist mit Arbeit, könnten wir alle noch viel mehr tatsächlich freie Zeit gebrauchen, die von nicht zweckgebundenen Tätigkeiten erfüllt sein sollte. Dazu zählte er beispielsweise Kindererziehung und Lernprozesse, die „Zweck in sich selbst“ seien. Muße als Zeit für Selbstentfaltung, Reflexion, Neugier – auch für den „Blick ins eigene innere Chaos“.
Anstatt in der Arbeitszeitverkürzungsdebatte nur Verzicht – nämlich auf Einkommen – zu fordern, sollte der Gewinn an freier Zeit in den Mittelpunkt gerückt werden – nicht zuletzt durch die Gewerkschaften, meint Zeuner. „Warum entstanden vor den Toren von VW keine selbstverwalteten Kulturzentren?“ fragt der Politologe. Dabei weiß er selbst, daß dies einen grundlegenden Wertewandel in der Gesellschaft und vor allem auch bei den Gewerkschaften voraussetzt. Für die Arbeiterbewegung waren die „Müßiggänger“ immer nur die Kapitalisten. Martina Kretschmann
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