: Hinter den sieben Deichen
■ Lebt Sarah Kirsch zwischen Landidyll und Weltpolitik
Tielenhemme ist ein Dorf, vermutlich ein überaus kleines Dorf im äußersten Norden Deutschlands. Ruhig und beschaulich muß es sich leben, wo Sarah Kirsch gefunden hat, was man nach Lektüre ihres tagebuchähnlichen „Simples Leben“ und unter Aufsetzen eines Strohhutes „Heimat“ nennen möchte.
Mit Sohn Moses, Tonsetzer Ambrosius, ihrer Katze Anna Blume, einem Esel Bosch, dem Hund Schumann und Jonathan, dem Schaf, teilt Sarah Kirsch einen rechtschaffen ländlichen Alltag zwischen Deich und Heide. Wahrlich, es scheint ein simples Leben zu sein, ein Dichteridyll (allein diese Namen!) im auch noch explizit heraufbeschworenen Elfenbeinturm, ziemlich biedermeierlich mit Holunder und Rosen, Platanen und Silberpappeln, Staren und Kühen auf sattgrünen Weiden dekoriert.
Aber es scheint eben nur so, ruft das schmale Büchlein leise klagend, seht, hier ist es auch gar schwer, das Leben, ruft es, und daß es sich dabei irgendwie demonstrativ zu entschuldigen scheint, verstimmt einen. In asthenisch ziselierter, nicht selten verniedlichender Prosa versuchen Sarah Kirschs Notizen den Spagat zwischen Haus, Hof, Dichterwerkstatt und der großen Welt, die – natürlich – in den funktionierenden Mikrokosmos der Künstlerin eindringt. 1977 wurde sie aus der DDR ausgebürgert.
Geographisch ist Sarah Kirsch weit weg von allem, von „verwurmten Seelen“, Golfkrieg, Gorbatschow, sich schlagenden Kirgisen und Usbeken oder deutsch- deutschen Weinerlichkeiten. Das Schreiben fällt zwar schwerer in solchen Zeiten, ist aber als Schreiben übers Schreiben oder eben Nicht-Schreiben immer möglich. „Habe die Nachrichten verpaßt. Wie schön!“, heißt es da. Die „Mobilmachung“ reicht immerhin bis ins Feuilleton. Sarah Kirsch gärtnert indessen, ganz bäuerliches role model, kocht „Koffie“, malt ihre „Akwareller“, schreibt mal „einen Articul zur gesamtdeutschen grausamen Lage“, geht hie und da auf Lesereise ins „verflossene Ländchen“ und tut ansonsten, was sie als Dichterin noch kann: diese und jene Differenz zum Außen, zur Welt hinter den sieben Deichen benennen, vor allem aber jeden Grashalm, jede rosa Wolke täglich neu besingen.
Ihre archaisierende Sprache hämmert wie ein eingeschnappter Specht gegen die eilige Politik. In Sarah Kirschs Fragmenten ist schon lange kein Platz mehr für große Entwürfe. Verluste, Verletzungen werden sparsam und still vertextet, die eigene Person im Rückblick, an Hand ihrer Stasi- Akten auf Integrität hin überprüft. Eine dann doch beneidenswerte Integrität. Jetzt aber genügt die Frau am Deich oft sich selbst, ist älter und vor lauter Einsicht auch müde geworden. „Die Restauseinandersetzung kann dann jahrelang ohne mich gehen“, befindet sie. Ein „feiner Kopp“ mit Verlangen nach Rückzug vom Lauten, voll von Welt und voller narzißtischer Reflexionen über den Tod und andere Kleinigkeiten.
Zwischen blühenden Herbstzeitlosen und Sonnenuntergängen blickt Sarah Kirsch zwar milder, aber nicht ganz ohne Leidenschaft auf die Geschichte – ein Stiefel fliegt neben den Fernseher, in dem Kollegin Christa Wolf („Lupus“!) gerade die jüngsten deutschen Gegebenheiten beklagt. Was bleibt im Falle Kirsch, sind nicht nur der Wechsel der Jahreszeiten, das Wetter, die Tiere, der Himmel, Johannisbeermarmelade und Regenbogen. Es bleibt offensichtlich immer noch eine „ungeheure Wut auf die parasitären Menscher und die Zustände des Planeten“.
Die freilich bricht sich in Sätzen Bahn, die, obwohl man sie glaubt, etwas von einem Alibi an sich haben. Wenn man Sarah Kirschs blumige Notizen in abstrakte Reinschrift übersetzt, bleibt natürlich auch der Versuch einer Bewältigung des globalen Chaos im privaten Kleinen, das ein wenig heilen soll. Kirsch ist klug; so etwas kann nicht ohne Selbstverspottung abgehen: „Man muß dagegen angehen, was natürlich blendend gelingt. Mir.“
Solche wie sie seien immer von anderen, allerdings nahegelegenen Sternen, schreibt Kirsch. Aber auch aus solcher Entfernung ist sich selbst inszenierende Feingeistigkeit nur schwer zu ertragen. Anke Westphal
Sarah Kirsch: „Das simple Leben“. Deutsche Verlags-Anstalt, broschiert, 100 Seiten, 26 DM
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