Die Westpartei vergißt den Osten

■ Der Ost-West-Konflikt bei den Bündnisgrünen ist keineswegs überwunden / Wandel durch Annäherung in Berlin

„Die Toleranz für die Ost- Quote sinkt dramatisch.“ Werner Schulz, Sprecher der derzeitigen Bundestagsgruppe und einflußreichster Ostler in der Führungscrew von Bundnis 90/Die Grünen, sieht noch erhebliche Auseinandersetzungen auf die Partei zukommen. „Ein großer Teil der Westgrünen“, so Schulz, „ist nach wie vor der Meinung, ihre Parteiführung habe bei der Fusion Bündnis 90 gegenüber zu viele Zugeständnisse gemacht.“ Ist der ganz andere Vereinigungsprozeß also auch bei Bündnis 90/Die Grünen innerlich noch lange nicht überwunden?

Im quasi ständigen Feldversuch demonstriert vor allem der Berliner Landesverband die praktischen Vereinigungsprobleme der Partei. Bei der Listenaufstellung zum Bundestag kam es zum Eklat, weil nach Frauenquotierung und Ostquote kein einziger West- Mann mehr auf einen aussichtsreichen Listenplatz kam. Für viele Mitglieder war das nicht akzeptabel, da hatte Wolfgang Wieland, Sprecher der Fraktion im Abgeordnetenhaus und eine der Integrationsfiguren des Landesverbandes, die größte Mühe, den Laden zusammenzuhalten.

Wo aber im Berliner Landesverband durch die tägliche Zusammenarbeit auch so etwas wie Wandel durch Annäherung zustande kommt, sieht Reinhard Weißhuhn, der auf Platz vier der Berliner Landesliste kam und zur Zeit als Mitarbeiter Poppes in Bonn ist, für den Gesamtparteitag eher weitestgehende Ignoranz gegenüber dem Osten. „Seit der geglückten Fusion hat die Westpartei den Osten schnell wieder vergessen.“ Entsprechend wenig Einfluß hat nach seinem Eindruck auch die gegenwärtige ostdeutsche Bundestagsgruppe von Bündnis 90 auf Programm und Strategie der Partei. Das gelte sowohl für den Wahlkampf als auch die möglichen Gespräche danach.

Das sieht Werner Schulz nicht ganz so kraß. Immerhin habe der Bundesvorstand die Idee eines Lastenausgleichs zwischen West und Ost in die Diskussion um die Wendepunkte aufgenommen und auch der Gedanke, bei einer grünen Regierungsbeteiligung auf ein Aufbauministerium zu drängen, werde noch diskutiert.

Schulz sieht denn auch weniger institutionelle Probleme als vielmehr kulturelle Differenzen. Die Parteilager seien im Osten nicht so festgelegt, man könne spontaner agieren. Etwa bei der Wahl des Bundespräsidenten. Nachdem der bündnisgrüne Kandidat Jens Reich zurückgezogen hatte, versuchte Schulz die grünen Wahlfrauen und Männer im zweiten Wahlgang auf Hildegard Hamm- Brücher einzuschwören, um so die FDP daran zu hindern, ihre Kandidatin zurückzuziehen, und die SPD im dritten Wahlgang zu bewegen, ebenfalls die FDP-Frau zu wählen.

„Das wäre der einzige Weg gewesen, Herzog zu verhindern.“Obwohl grundsätzlich jeder der Plausibilität dieser Idee zustimmte, waren die Grünen dann doch nicht flexibel genug, um rechtzeitig umzuschalten. „Die Ostler waren alle dafür“, meint Schulz, aber die Westler seien zu festgelegt gewesen.

Daß die Ostler sich mehr an Personen und weniger an Parteien orientieren, zeigt sich für Werner Schulz noch an einem anderen Punkt. Er kann sich vorstellen, im Freistaat Sachsen bei einem entsprechenden Ergebnis der kommenden Landtagswahlen die erste schwarz-grüne Koalition der Republik aus der Taufe zu heben. Das habe mit Ministerpräsident Kurt Biedenkopf zu tun, aber auch damit, daß es „im Osten nicht so eine prinzipielle Gegnerschaft zwischen Bündnis 90 und CDU gibt“. „Wir haben schließlich mit einigen von denen zusammen gegen die SED gekämpft, warum sollen wir uns da nicht gemeinsam an einen Kabinettstisch setzen?“

Allein schon Verhandlungen zwischen der CDU und Bündnisgrünen drei Wochen vor der Bundestagswahl fände Schulz hervorragend: „Da geht doch das ganze Wahlkampfkonzept von Kohl nicht mehr auf, wie will der uns denn dann als gefährliche Chaoten denunzieren?“ JG