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Europas Nationalisten auf dem Vormarsch

■ Die bisherigen Koalitionen im EP werden sich nach der Wahl verändern

Noch nie seit der Einführung direkter Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 1979 hat es einen Europawahlkampf gegeben, in dem so wenig von der Zukunft Europas die Rede war wie jetzt. Zwölf nationale Wahlkämpfe finden statt, von inneren Umbrüchen geprägt. Das hat eine paradoxe Konsequenz: Da sich seit 1989 in fast allen EU-Mitgliedsstaaten sehr viel verändert hat, könnte sich auch das neugewählte Europäische Parlament stark verändern – zugleich wäre das aber eine eher unbeabsichtigte Folge von zwölf rein innenpolitisch motivierten Wahlausgängen.

Das bisherige Parlament funktionierte durch ein festes Zusammenspiel der Sozialisten und der hauptsächlich christdemokratischen Fraktion „Europäische Volkspartei“, die mit zusammen 359 der 518 Sitze die tragende Kraft hinter allen Beschlüssen und Stellungnahmen bildeten. Sie waren Ausdruck eines föderalen Konsenses, der in Richtung Vertiefung der EU-Integration ging. Dieser Konsens, ohnehin durch die Turbulenzen der letzten Jahre angeschlagen, könnte nach den Wahlen verschwinden. Auf der sozialistischen Seite sind Verluste zu erwarten – vor allem in Italien, wo die Sozialistische Partei von der politischen Landkarte so gut wie verschwunden ist und die Reformkommunisten auch nicht mehr so stark sind wie früher, sowie in geringerem Maße in Frankreich und Spanien. Größere Gewinne sind nur in Großbritannien wahrscheinlich; allerdings schnitt Labour dort schon 1989 mit 40 Prozent gut ab. Auf der Seite der Volkspartei drohen ein Absturz der britischen Konservativen und das Verschwinden der italienischen Christdemokraten zugunsten der Forza Italia von Silvio Berlusconi. Und ob die Berlusconi-Rechten uneingeschränkt proeuropäisch sein wollen, wird bezweifelt.

Der stille Konsens vergangener Jahre würde damit heftigeren Debatten Platz machen, die die verbreitete Euro-Skepsis besser aufgreifen könnten. Das läge im Trend. Denn wer redet heute noch ernsthaft von einer Politischen Union oder einer gemeinsamen Währung zum 1. Januar 1999? Schon der im Dezember 1991 geschlossene Maastrichter Vertrag, der diese beiden Ziele festschrieb, war eine Totgeburt, auf die keine weitere Integration folgte, sondern eine Lockerung des Europäischen Währungssystems und eine eklatante außenpolitische Handlungsunfähigkeit vor allem gegenüber dem Krieg in Bosnien.

Heute besteht unter maßgeblichen Euro-Politikern Einigkeit, daß die EU die Realität einer doch noch stark nationalstaatlich bestimmten Politik anerkennen muß. Ab Juli werden erst Deutschland und dann Frankreich die EU-Präsidentschaft wahrnehmen, in enger Koordination – und die beiden EU-Kernstaaten müssen maßgebliche Richtungsentscheidungen für die 1996 geplanten Konferenzen zur Revision der Maastrichter Verträge treffen. Eine Marschrichtung hat Frankreichs Europaminister Alain Lamassoure kürzlich in einem vielbeachteten Zeitungsartikel ausgeführt: Die EU müsse 1996 einen „neuen Gründungsvertrag“ verabschieden, der zwar die bekannten Integrationsziele bekräftigt, aber weder neue EU-Kompetenzen noch einen Zeitraum für das Erreichen der Ziele festschreibt. Ferner sollte „eine Gruppe von Ländern, die ein Beispiel geben will“ – genannt werden Frankreich und Deutschland–, sich verpflichten, als „Neugründer“ alle Ziele zu erfüllen, während andere Länder ihr eigenes Tempo einschlagen. Diese Option eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten ist bereits vom britischen Premierminister John Major begrüßt worden, der darin natürlich eine Rettung für den britischen Sonderweg sieht. Sie umgeht elegant auch die meisten Schwierigkeiten einer EU-Erweiterung nach Osten.

Die Europawahlen werden diesen Geist wahrscheinlich bestätigen. Die Zeit der Euro-Träumer ist vorbei. Das neue Parlament wird Tribüne sein für eine kritischere Stimmung gegenüber den anderen EU-Institutionen – doch weniger aus Demokratielust, sondern als nationalistischer Reflex. Schon setzen die Euro-Skeptiker am rechten Flügel der britischen Konservativen auf eine Kooperation mit ihren Gesinnungsfreunden in der Forza Italia – mit Italiens Außenminister Antonio Martino verstehen sie sich bereits prächtig – und Teilen der französischen Rechten, um entweder eine eigene Fraktion zu gründen oder, eher noch, die „Volkspartei“ vom integrativen auf einen nationaleren Kurs zu bringen. Um weiter in den Mainstream vorzudringen, fehlte ihnen dann, wie der britische Economist schreibt, nur noch „ein Sinneswandel der herrschenden Klasse in Deutschland“, so daß auch Deutschland sich dem „Freihandelseuropa der Nationalstaaten“ zuwendet.

Die Aussichten dafür sind gar nicht so gering. Wollte die CDU nicht schon letztes Jahr das Ziel eines europäischen Bundesstaates aus ihrem Grundsatzprogramm streichen? Und macht nicht die SPD jetzt Wahlkampf mit dem Spruch „Die deutschen Interessen besser vertreten“? Die europäische Koalition der Nationalisten ist bereits weiter gediehen, als allgemein wahrgenommen wird. Dominic Johnson

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