: Hinter der Fassade einer stabilen Demokratie
■ betr.: „Kolumbiens Bürger müssen zur Stichwahl“, taz vom 31.5.94, „Kolumbiens Politiker im Dro genrausch“, taz vom 1.6.94
Bei der Berichterstattung über die Präsidentschaftswahlen in Kolumbien wurde meines Erachtens die kolumbianische Realität nicht verdeutlicht: Sie erweckte den Eindruck, als wenn es in Kolumbien eine parlamentarische Demokratie europäischen Typs gäbe. Hinter dieser Fassade einer stabilen Demokratie steckt aber ein krisengeschütteltes Land, in dem das Militär der eigentliche Machtfaktor ist. In Kolumbien gab es zwar in den letzten 35 Jahren keine Militärdiktatur, aber trotzdem gab es in jedem Jahr der achtziger Jahre mehr Morde an politischen Oppositionellen oder Mitgliedern von Volksorganisationen als in den 17 Jahren der Militärdiktatur in Chile insgesamt! Der überwiegende Teil (zirka 75 Prozent) der politisch motivierten Gewalttaten wird von der Armee und den mit ihr verbündeten paramilitärischen Organisationen verübt.
Dies prägt die Lebenssituation in Kolumbien und ist der entscheidende Grund für die geringe Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen. Mangels Alternative lohnt es nicht, in Kolumbien zu wählen. Verwiesen sei dabei auf das Schicksal der Patriotischen Union (union patriotica), eines linken Bündnisses, das in den achtziger Jahren politische Erfolge zu verzeichnen hatte. Doch die Reaktion der staatlichen Stellen ließ nicht lange auf sich warten. Seit 1985 sind mehr als 1.500 FunktionärInnen, Mitglieder und AnhängerInnen der Patriotischen Union, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten, ermordet worden.
Jegliche politische Alternative wird systematisch vernichtet. Im Artikel vom 31.5.94 steht, daß aufgrund des gewaltsamen Boykotts der linken Guerilla Militär und Polizei massiv präsent waren, um die Wahlen zu schützen. Diese Aussage ist zynisch und trifft die Lebenssituation der KolumbianerInnen in keinster Weise. Mit ihr wurde mal wieder der Bock zum Gärtner gemacht.
Das Drogenproblem ist nur ein und nicht der entscheidende Aspekt der kolumbianischen Realität. In der Ausgabe vom 1.6.94 wurde diesem Aspekt unverhältnismäßig viel Beachtung geschenkt. Die kolumbianische Regierung versucht, sich als Vorkämpfer im „Drogenkrieg“ zu legitimieren, und lenkt so von der oben geschilderten Gewaltrealität ab. Dies gelingt ihr zunehmend, der Artikel der taz vom 1.6.94 war ein Beitrag dazu. Guido Mensger, Aachen
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