„Empfange uns, Heimat, leb wohl, Deutschland“

■ Abschiedsfeier der russischen Alliierten in der Geisterstadt Wünsdorf

Wünsdorf (taz) — Wünsdorf, die verbotene Stadt im Wald von Brandenburg. Am Sonnabend öffnete sie für die BewohnerInnen der umliegenden Dörfer zum erstenmal seit Jahrzehnten die Tore. Als Kind, erzählte eine über 50jährige Frau aus Wünsdorf, sei sie mal heimlich durch ein Loch im Maschendraht einige Meter in die Stadt geschlichen, später, als die Sowjets rund um den 600 Hektar großen Militärstandort eine Mauer zogen, habe man nicht einmal mehr ahnen können, was sich dort im Getto tat. Jetzt waren diese Frau und 2.500 andere BewohnerInnen der umliegenden deutschen Ortschaften vom Oberkommando der russischen Westgruppe eingeladen, um in der „Geisterstadt“ die paar tausend noch nicht abgezogenen Soldaten verabschieden zu können. Von den etwa 70.000 Militärangehörigen, die noch Ende 1991 in der geheimen Stadt lebten, sind über 65.000 schon zu Hause. Jeden Abend um 19.10 Uhr fährt vom Wünsdorfer Bahnhof ein Sonderzug nach Moskau.

„Leb wohl, Deutschland“, so hieß das anrührende Abschiedsfest. Natürlich gab es eine Parade und das Defilee von Panzern und Raketenwerfern, aber es ging nicht um die Präsentation der GUS- Waffentechnik, sondern um die Erinnerung an die Befreiung Berlins im April 1945. Junge Soldaten trugen die Fahnen der Verbände vorbei, die sich an der Schlacht beteiligt hatten, und ordensgeschmückte Veteranen waren gekommen, um die Parade abzunehmen. Auf einem Geschützwagen stand ein Soldat, der ein deutsches Kind im Arm hielt. Das lebende Bild war dem sowjetischen Ehrenmal von Treptow nachempfunden. Dieses Symbol der Befreiung tragen die Soldaten der Westgruppe auch auf ihren Ärmelabzeichen. Auf einem großen Plakat stand: „Wir haben den Faschismus besiegt.“ Welche Opfer dies gekostet hatte, konnten die deutschen Gäste später im Museum sehen. Dort hängt ein in ganz Europa einzigartiges Diorama, ein 36 Meter breites und 16 Meter hohes Rundgemälde, das den Kampf um den Reichstag zeigt. Ab heute wird dieses Diorama zerlegt und nach Moskau geschickt, dabei hätte es wie kein zweites sowjetisches Historienbild nach Berlin gehört. „Wir hätten es gerne hiergelassen“, meinte der Museumsdirektor resigniert, „aber es kam kein deutsches Angebot.“

Eine melancholische Mischung von Erinnerung an die Ankunft 1945 und Trauer über den Abschied 1994 bestimmte das mehrstündige Unterhaltungsprogramm am Nachmittag. Zum Schluß traten 1.000 Soldaten, darunter eine Einheit in den Kampfanzügen von 1945, mit dem schwermütigen Lied an: „Empfange uns, Heimat, empfange uns.“ Später am Abend saßen die Soldaten mit ihren deutschen Gästen im Gras, tranken zusammen Wodka, aßen Piroggen, und zu russischen Walzerklängen drehten sich langsam die Paare. Anita Kugler