Der Bundestrainer hat Angst: Vor dem nächsten November mit seinen trüben Regentagen, diesen dunklen Stunden der Sinnkrise. Berti Vogts! Was ist bloß los? Eigentlich nichts: Er liebt noch immer den Fußball, den Kanzler und die deutsche Fahne

taz: Herr Vogts, Sie haben einen großen und gewichtigen Freund. Haben Sie heute schon mit ihm telefoniert?

Berti Vogts: Nein, es gab ja keinen aktuellen Anlaß, mit Helmut Kohl zu sprechen. Sicher, wir haben beide ein schweres Jahr vor uns, das kann für jeden von uns ganz erfolgreich enden. Oder ganz schlecht.

Erinnern Sie sich, worüber beim letzten Mal geredet worden ist?

Ja sicher, auch über Leute wie Sie. Er hat mir geraten: Nimm die Medien nicht so ernst!

In Deutschland gibt es Millionen Bundestrainer – auf dem Sofa oder am Stammtisch. Hat auch der Kanzler seine Tips für Sie?

Natürlich ärgert er sich mal: Berti, warum nehmen Sie nicht den und den ...

... wen will er denn sehen?

Stefan Kuntz etwa. Der Kanzler hat schon ein Herz für die Pfalz, für Kaiserslautern. Das ist okay, aber ich rede ihm ja auch nicht rein, wen er sich als Minister suchen soll.

Er war ja selber mal Kicker ...

...ja, ja, ich weiß: als Mittelläufer in Oggersheim. Wir haben zwar nicht dieselbe Figur, aber er ist durchaus mein Kaliber: auch aus der etwas groben Ecke.

Sie sind ja auch sonst auf einer Linie.

Ich mag seine menschliche Art. Und daß er soviel getan hat für den Zusammenschluß mit der früheren DDR. Vielleicht hat er da ein paar Fehler gemacht: Er hätte früher sagen sollen, daß da eine Menge auf uns zukommt. Dann hätten doch die meisten gesagt: Okay, dieses Paket tragen wir gemeinsam, die Kosten zahlen wir gerne. Trotzdem hätte das auch jeder wissen müssen, der ein wenig nachgedacht hat! Also ich hab in der Frage keine Probleme mit ihm.

Aber er mit Ihren Jungs: Diesen Kanzler ärgert doch sicher, wenn die Spieler bei der Nationalhymne ins Stottern kommen.

Blödsinn. Das stimmt doch gar nicht! Die Spieler kennen alle den Text! Aber es ist nicht jeder mental so weit, daß er seinen Stolz wirklich lauthals heraussingt. Ich singe auch heute noch nicht mit, ich kann es einfach nicht. Bei mir geht etwas anderes vor: Ich schaue dann zur Flagge hin. Und bin unheimlich stolz in diesem Moment, ein Deutscher zu sein. Unheimlich stolz und voller Freude!

Die Menschen im Ausland ängstigen sich vor einem neuen deutschen Nationalismus.

Das kann ich nicht nachvollziehen. Gehen Sie doch in die USA oder nach Kanada. Da wird die Nationalhymne vor jedem bedeutenden Ereignis gespielt oder von einem bedeutenden Künstler gesungen. Sogar im Kino ist das so. Ich wüßte nicht, warum man sich schämen oder gar ängstigen sollte, wenn auf diese Weise eine feierliche Stimmung entsteht.

Das gefällt Ihnen.

Wenn wir das machen würden, wären wir in den Augen einiger wieder die Nationalisten. Dabei können wir Deutsche doch wirklich stolz sein auf unser Vaterland. Wir sind doch alle für den Frieden, man kann uns nicht mit den Deutschen von 1933 vergleichen. Wir sind so empfindlich, wir stehen nicht über den Dingen. Erinnern Sie sich an diese unmögliche Diskussion um das Länderspiel am 20. April? Ich hab nicht gewußt, daß Adolf Hitler am 20. April Geburtstag hat, tut mir leid. Ich bin Jahrgang 46. Ich sag' Ihnen mal was: Am 20. April 1952 haben wir gegen Luxemburg gespielt, und kein Mensch hat sich aufgeregt. Ja, sind die Rechten denn schon wieder so stark, daß wir Angst haben, am 20. April ein Freundschaftsspiel zu machen? Vielleicht schmeißen sie Ausländern die Scheiben ein und...

... tragen den Satz auf ihren Bomberjacken, den Sie so mögen: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.“

Hier eine Parallele zu konstruieren ist ja wohl mehr als unmöglich. Für mich sind das Kriminelle. Gegen die müssen wir vorgehen, mit allen Mitteln. Sind Sie denn nicht stolz, Deutscher zu sein?

Ein Zufall ist das, weiter nichts.

Warum wollen Sie sich nicht dazu bekennen? Schauen Sie sich doch mal die Pfadfindergruppen in den USA an, wie die alle gekleidet sind, mit deutscher Disziplin. Oder in Japan, da fängt es im Kindergarten an, die Disziplin, das Bekennen. Warum dürfen wir das nicht auch? Wovor haben Sie denn Angst? Nationalhymne, Schwarz- Rot-Gold auf dem Trikot, damit wollen wir uns einfach gut darstellen.

Sie haben im Wahlkampf 1976 für die CDU geworben. Berti Vogts als frischgekürter Weltmeister wäre eine gute Zugnummer im Superwahljahr.

Ich muß von keinem Plakat lächeln, man weiß auch so, wie ich zum Kanzler stehe. Nur: Ich wünsche mir eine große Koalition, dann wären Gesetzesänderungen im innenpolitischen Bereich leichter durchzusetzen, wäre das Gesetz besser zu vertreten.

Berti Vogts, der Law-and-order-Mann?

Es ist doch so in unserem Land: Wenn einer eine Scheibe einwirft, hat die Polizei überhaupt keine Chance mehr. Dann nehmen sie die Personalien auf und lassen ihn wieder laufen – das ist doch unmöglich!

Der „Stern“ hat mal über Sie geschrieben: „Rübe-ab-Anhänger“.

Früher habe ich diese Meinung vertreten, ja, ich war für die Todesstrafe. Heute habe ich ein Kind, habe eigenes Leben in die Welt gesetzt, heute sehe ich das anders, total anders! Denn wir haben kein Recht, über anderes Leben zu entscheiden. Das entscheidet dort oben der liebe Herrgott.

Sie würden gern Nelson Mandela kennenlernen. Warum das? Der Mann wurde jahrzehntelang von Konservativen wie Ihnen als Terrorist bezeichnet.

Er war der erste, der die Schwarzen in Südafrika neu motiviert, ihren Wunsch nach Freiheit ausgedrückt hat. Seine Politik hat die Leute auf die Straße gebracht, und daß jetzt zum ersten Mal freie Wahlen waren, das ist auch sein Verdienst und nicht nur das von de Klerk. So ein Mann ist doch positiv. Das imponiert mir!

Aus Ihrem Mund überrascht das.

Wieso denn? In meinem Weltbild haben sogar die Grünen ihren Platz. Ich hätte nichts gegen eine schwarz-grüne Koalition. Den Joschka Fischer schätze ich sehr! Auch was Greenpeace macht, das hat doch Hand und Fuß. Man muß doch gegen die Chemiekonzerne vorgehen. Ich will, daß mein Sohn bald wieder im Rhein schwimmen kann, so wie ich das früher als Kind konnte. Und daß sich jede Partei mit Umweltproblemen beschäftigt, das haben wir alles den Grünen zu verdanken. Grün, die Farbe ist doch schön!

Mal ehrlich, Herr Vogts, wie oft haben Sie in den vergangenen vier Jahren gedacht: Hätte ich den Job bloß nie angenommen!

Schon zwei-, dreimal habe ich mich gefragt: Warum bist du so verrückt gewesen? Ich hatte vorher so ein schönes Leben als Jugendtrainer. Und jetzt gab es Zeiten, wo man mehr als meinen Kopf gefordert hat, wo ich beleidigt worden bin. Wenn in Bochum 40.000 schreien: „Vogts, du Arschloch!“, das finde ich unmöglich. Zum Glück kriegt mein Sohn das im Kindergarten nicht mit, aber wenn er größer gewesen wäre, die Familie gelitten hätte, dann hätte es anders ausgesehen. Und was da alles geschrieben wird! Wir wären eine Mannschaft von Duckmäusern! Wer so was schreibt, muß doch krank sein. Oder: Die kicken, als hätten sie einen Wasserkopf, als hätten sie 2,5 Promille im Blut. Das muß man sich mal vorstellen!

Sie leben mit der ständigen Angst vor der nächsten Schlagzeile?

Nein! Wenn es so wäre, da müßte ich mir ja die Kugel geben!

Ein paar Beispiele aus „Bild“ und „Sport-Bild“ gefällig: „Berti ist ein kleiner Oberlehrer.“ „Berti, was gibt's da noch zu lachen?“, heißt es da und: „Null Bock auf Berti.“

Das kann mich auch nicht treffen. Die sind doch nur verärgert, weil ich nicht ihr Mann bin, ich schreibe denen keine Kolumnen. Und noch etwas ärgert die: Bei mir gibt es keine Informationen exklusiv, wo kommen wir denn da hin! Ich behandle jede Zeitung gleich.

Der große Franz Beckenbauer hat sich arrangiert, er stand und steht bei der „Bild“-Zeitung auf der Honorarliste.

Franz hat zu mir gesagt: Berti, du machst den größten Fehler!

Boris Becker sagte mal über „Bild“: „Menschenverachtender Journalismus ist das.“

Was mich aufregt, sind die Ausreden dieser Journalisten: „Die in Hamburg wollen das“, immer sind es „die in Hamburg“. Als wären sie nicht selbst für ihre Arbeit verantwortlich. Die interessiert immer nur: „Ist denn keine Geschichte drin, irgendein Skandal oder ne Home story?“ Nee, Freunde, mit mir nicht, zu mir kommt ihr nicht nach Hause!

Jupp Derwall hat seine Zeit als Bundestrainer so erfahren: „Ich fühle mich beschissen, wie am Marterpfahl. Kein Zeitungsfritze läßt die Gelegenheit aus, mir einen Pfeil in den Hintern zu pfeffern.“

Ich war schon in Idaho, da sind ja viele Marterpfähle, aber ich hab' noch keinen gesehen, an dem ich schon gestanden hätte. Aber es stimmt schon: man ist ständig Zielscheibe.

Bei jeder Pressekonferenz wirken Sie furchtbar gequält, ganz verkrampft.

Was soll ich denn jeden Tag erzählen? Sprüche soll ich klopfen. Was wird denn gefragt? Warum schmeißen Sie den nicht raus, warum spielt der nicht, der Kahn müßte doch jetzt mal wirklich ... Immer auf der Suche nach der Schlagzeile. Das liefere ich nicht! Es ist doch so: Bei längeren Turnieren kriegen die Journalisten schon nach drei Tagen den Lagerkoller, nicht wir.

Wenn Sie jetzt mit Glanz und Gloria Weltmeister würden, kämen Sie dann raus aus dem Schatten von Franz Beckenbauer, dem Kaiser, weg von Ihrem Image ...

... was für ein Image denn?

Sie sind der Terrier, der Kleingeist, der Rasenmäher.

Franz wird immer die Lichtgestalt bleiben. Ich komme aus den USA entweder als Vaterlandsverräter oder als Held zurück. An meinem Image wird sich erst etwas ändern, wenn wir das Finale 5:0 gewinnen.

Sonst bleiben Sie, Zitat vom „Spiegel“: „ein grätschender Simpel“.

... und dieser Simpel ist von Journalisten zweimal zum Fußballer des Jahres gewählt worden, 1971 und 1979, trotz Beckenbauer, trotz Netzer, trotz Grabowski, trotz dieser ganzen Generation. Komisch, nicht?

Stimmt. O-Ton Vogts von damals: „Meine Wahl hielt ich für einen Witz.“

Ich hab mich gewundert, okay, aber ich kann offenbar nicht nur der Zerstörer, der Rasenmäher gewesen sein. Und noch etwas: Nur mit elf Beckenbauern gewinnt man keinen Titel. Es werden halt gerne Legenden gebildet, Mythen aufgebaut. Von Franz heißt es immer, er hätte als Trainer immer alles aus dem Bauch entschieden. Das paßt so schön ins geliebte Klischee. Der größte Blödsinn ist das! Franz war ein viel intensiverer Arbeiter als ich. Er hat sich die ganze Nacht Videos von Gegnern reingezogen, vor und zurück. Dann hat er mich geweckt, morgens um vier, und gesagt: „Berti, guck mal, wie die das machen.“ Da hab' ich gesagt, Franz, bist du verrückt, laß mich schlafen!

Beneiden Sie ihn?

Überhaupt nicht. Franz hat eine Gabe, und diese Gabe habe ich nicht: Wenn er auftaucht, ist schönes Wetter. Wir waren mal in Frankfurt mit zwanzig holländischen Journalisten verabredet, und Franz hatte das Flugzeug verpaßt, was ja bei ihm häufiger mal passiert ist. Da saß ich und erzählte, eine Stunde, zwei Stunden, von Jugendtraining, Stützpunkten, und die Gesichter wurden immer länger, stinksauer waren die. Dann geht die Tür auf, Franz kommt rein und sagt strahlend: „So viele seid's ihr, wenn ich das gewußt hätt', wär' ich zu euch nach Holland gekommen.“ Zack, erledigt. So ist der Franz. Ich bin halt der Berti, ganz anders.

„Brav, arbeitsam, diszipliniert und verläßlich wie eine Brieftaube“, so sieht Sie der „Spiegel“.

Vom Spiegel ist so etwas doch ein tolles Kompliment, oder? Ich mußte immer den harten Weg gehen, alles hart erarbeiten, darauf bin ich stolz.

In Ihrer Autobiographie mit dem Titel „Klein, aber oho“ ...

... wer hat die geschrieben?

Es steht hier: „Autobiographie von Berti Vogts“ – also Sie.

Also, ich hab' das ganz bestimmt nicht geschrieben, das weiß ich genau!

Jedenfalls heißt es da: „Ich bin ein bodenständiger Mensch, ich würde meine Heimatgemeinde nie verlassen.“

Heute ist so etwas schon negativ, ja, man muß Weltmann sein. Ich bin doch schneller in New York als Franz von Kitzbühel aus. In zwanzig Minuten bin ich in Düsseldorf und dann ab per Direktmaschine. Es ist ja auch negativ, daß ich immer noch mit der gleichen Frau verheiratet bin. Soweit sind wir doch inzwischen.

Sie scheinen kein großer Optimist zu sein, Herr Vogts. Schon als junger Kerl hatten Sie im Regal das Buch stehen „Wie mache ich mein Testament“.

Das muß man doch, es kann doch jeden Tag vorbei sein.

Denken Sie so oft an den Tod?

Nein, aber ich will meine Sachen geregelt haben. Ich habe Erbschaftsfälle erlebt, dieses Hauen und Stechen, wie das losging! Sie sollten auch ein Testament machen, nicht daß der Staat nachher noch etwas von Ihrem Geld bekommt – wenn Sie ihn schon nicht so gut finden. Ich kann völlig relaxed irgendwo hinfahren – alles geregelt.

Diese Formalitäten nehmen Ihnen die Angst?

Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich bin Christ. Das Leben geht ja weiter, davon bin ich fest überzeugt, sonst kann ich das Wort „ewig“ nicht interpretieren. Können Sie das?

Nach dem Tod ist nichts.

Nein, es geht weiter. Ob wir uns als Menschen wiedertreffen, oder...

... als Tiere?

Alles möglich. Und ich sehe meine Eltern wieder, ganz bestimmt.

Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Karriere: vom Werkzeugmachergesellen zum Bundestrainer ...

... dann empfinde ich Glück. Ja, mein Leben war voller Glück.

Sie sind rundum zufrieden?

Mir geht's gut, ich bin gesund, ich habe nur Haarausfall.

Ihnen kann geholfen werden: Greifen Sie zum Toupet.

So etwas brauche ich nicht, obwohl ich damit schon Hunderttausende hätte verdienen können. So viel Geld, nur wenn ich falsche Haare aufsetze, das ist doch verrückt, oder? Nein, richtige Probleme habe ich immer im November, wenn diese Regentage kommen, da falle ich in ein Loch. Totensonntag, Allerseelen, Volkstrauertag, Allerheiligen ... In den vergangenen zehn Jahren bin ich in dieser Phase immer für eine Woche nach New York gefahren, um diese Depressionen zu bekämpfen. Die Kirche macht da auch etwas verkehrt: Sie sagt den Christen immer wieder, was man für ein schlechter Mensch ist.

Dann kommt die große Sinnkrise?

Da frage ich mich dann schon, ob ich alles richtig gemacht habe. Dann gehe ich häufiger auf den Friedhof und spreche mit meinen Eltern. Und bin sehr dankbar, was der liebe Herrgott mir gegeben hat.

Sie flüchten ja nicht nur vor dem traurigen November. Im Urlaub zieht Sie's in die Ferne: Alaska, Galapagosinseln, Namib-Wüste, Neuseeland ...

... und das paßt nicht in Ihr Bild, daß ich mit Rucksack und Campmobil losziehe, stimmt's? Ich müßte wohl Golf spielen oder ...

... nein, ein Cluburlaub am Mittelmeer würde zu Ihnen passen.

Nichts für mich, danke. Ich brauche die Weite, die Natur, die Ruhe, das gibt mir Kraft, da kann ich ausspannen, nachdenken.

Zum Beispiel beim Schildkrötenstreicheln ...

... Sie lächeln, aber das ist gar nicht so einfach! Die attackieren ohne Vorwarnung, gerade auch im Wasser, da muß man höllisch aufpassen. Der Hai hat eine Vorwarnzeit, die Schildkröte attackiert sofort. Zuletzt hatte ich eine tolle Zeit in Australien. Da sitzt man mit anderen Leuten am Lagerfeuer, in der Pfanne brutzelt Fleisch ...

... und dann denken Sie: Das ist das wahre Leben, warum gehe ich Idiot zurück und mache Pressekonferenzen?

Ganz richtig, das ist gut ausgedrückt! Ich grüble dann schon: Warum machst du das, du brauchst es doch nicht. Warum spielt der, nicht der? Jeder hat doch eigene Phantasie, soll doch jeder seine eigene Mannschaft aufstellen. Ist das denn so wichtig, ob ich die richtige Elf getroffen habe? Manchmal verstehe ich das alles nicht.

Da sitzen Sie lieber vier Stunden auf einem Baum ...

... sechs Stunden waren das mal, im tiefsten Alaska! Weil unten ein paar Bären gespielt haben. Aber ich wußte ja, und jetzt können Sie etwas lernen, daß nämlich Grizzly und Braunbär nicht klettern können. Nur der Schwarzbär kann klettern. Das hat mir mein Führer bei der Einweisung erklärt, hochinteressant ist das!

Der Führer saß auch mit oben?

Er saß unter mir, der wäre zuerst dran gewesen. Aber die Bären haben uns gar nicht beachtet, die haben gewartet, bis die Lachse springen, und dann welche gefangen. Wunderschöne Fotos habe ich da gemacht. Ach, mit Journalisten zu reden ist oft beschwerlicher, als vor den Bären wegzulaufen.

Was machen Sie sonst eigentlich den ganzen Tag? Wenn Max Merkel recht hat, braucht ein Bundestrainer nur ein Telefon, um zu erfahren, wer verletzt ist, und einen Bleistift, um die Liste der Nationalspieler abzuhaken.

Wenn es so wäre, ganz toll wäre das. Die Bundestrainer vor mir hatten ein schönes Leben: Sechs Länderspiele im Jahr, einige Lehrgänge, fertig. Aber das ist nicht meine Arbeit. Ich habe ja den ganzen Jugendbereich, muß den Rahmenterminkalender erstellen...

... konkret: Wie sieht eine Woche in Ihrem eigenen Kalender aus?

Hier zum Beispiel: Freitag, DFB-Vorstandsitzung, abends Bundesliga Eintracht Frankfurt, Samstag früh DFB-Beirat, am Sonntag spielte der 1. FC Köln, Dienstag war eine Managersitzung und dann Europapokal in Leverkusen, Mittwoch Europapokal in Bremen, Donnerstag zu Hause, Freitag zu Hause, Samstag Telefondienst, die Nationalspieler müssen sich melden, die DFB-Trainer, die permanent unterwegs sind, müssen Bericht erstatten. Nebenbei habe ich Trainingspläne ausgearbeitet, die WM mitvorbereitet, da mußte man rüber und die Lokalitäten ansehen.

Sie schauen sich über 100 Fußballspiele an im Jahr ...

... plus die im Fernsehen, plus diverse Jugendspiele. Wir müssen ja an die Kleinen ran, da haben wir Schwierigkeiten – back to the base. Wir müssen wieder Persönlichkeiten nach oben bringen. Spieler mit guter Wettkampftechnik. Ich will ja keine Künstler oder Artisten, die sollen nach Las Vegas gehen zu Siegfried und Roy. Ich brauche Leute, die ihre Technik im Spiel durchsetzen können. Deswegen sollen die Kinder spielen, spielen – bis zum zwölften Lebensjahr ohne Meisterschaften und all den Streß. Kraft und Schnelligkeit, das kommt nachher. Mein Ideal ist das Offensivspektakel! Leute wie Andreas Möller, Abwehrspieler wie Frank Rijkaard, der sehr wenig Fouls macht in der Defensive, ein Weltklassemann. Und vorne der van Basten.

Dann lassen Sie doch so spielen.

Die ganze Taktik zerstört das schöne Spiel. Gut, der Trainer ist der Regisseur, er bestimmt, ob brutal oder niveauvoll gespielt wird. Aber ich werde doch gezwungen zu taktieren. Die Nationalmannschaft muß erfolgreich sein. Was nutzt es, frei von der Leber weg zu spielen, und wir verlieren alle drei Vorrundenspiele? Dann bin ich ein schöner Depp!

Beckenbauers Credo war: Wenn du gewinnen willst, darfst du nicht angreifen.

Was er gemeint hat, ist nur: Zuerst fängt das Spiel bei der Ordnung an, hinten mußt du Ruhe haben, dann kannst du offensiv spielen.

Franz Beckenbauer forderte wie die taz: Nur noch zehn Spieler pro Team, das gibt Raum für wahre Kreativität!

Falsch, ganz falsch! Dann bräuchte man noch bessere Athleten, noch mehr Kondition. Nein, 15 Spieler pro Mannschaft, da muß jeder dribbeln können, zwei, drei ausspielen – das gäbe eine ganz neue Spielkultur.

Ist das Ihr Ernst?

30 Leute auf dem Rasen, das wäre viel besser, viel schöner! Doppelpäßchen, Tricks, da geht nichts mit Gewalt. Zehn gegen zehn oder neun gegen neun Spieler, das ist der Untergang des Fußballs!

Günter Netzer sagt über Ihre Mannschaft: „Dieser Fußball hat keine Seele, keine Kultur, keinen Unterhaltungswert. Nur Kampf, Wille, Athletik. Berti tut mir leid.“

Wir haben keine besseren Spieler, und das sind nun mal die Stärken des deutschen Fußballs, okay, so ist es halt.

Sie würden lieber aufspielen wie die Brasilianer?

Na klar. Gehen Sie doch einmal in eine Diskothek und schauen, wie Brasilianer tanzen, wie geschmeidig die sich bewegen. Daneben stehen wir herum wie Kühlschränke.

Es gibt noch ein Problem im deutschen Fußball: Uli Stein vermißt heute die kantigen Typen. Deswegen sei das Spiel so kaputt.

Der Stefan Effenberg ist nicht gerade ein leichter Typ.

Ist er ein Rebell wie Breitner oder...

... Moment, Moment! Nun kommen schon wieder die Mythen, die Legenden! War Breitner ein Rebell? Ich erzähle Ihnen mal etwas über Breitner. Der kam früher immer mit seinem Dreitagebart: „Mist-DFB, wieso muß ich mit Sakko und Krawatte anreisen, Kacke!“ Das ist O-Ton Breitner. Und dann geht dieser – wie er sich so inszeniert hat – Hochintellektuelle zu Real Madrid, dem königlichen Klub. Netzer ja auch, der hatte immer schwarze Sachen an, einen Rollkragenpullover, seine Diskothek – alles schwarz. Beide kommen zum nächsten Länderspiel nach Düsseldorf, Krawatte, grauer Anzug, königliches Abzeichen, chic. Ich sage: Wie seht ihr denn aus? Da sagen die Rebellen: „Wir müssen das.“ Da ging's um Geld, da haben sie's brav mitgemacht. Also hören Sie mir auf mit Ihren Rebellen!

Für den Autor Helmut Böttiger ist Effenberg ein „narzißtischer, verzogener Wohlstandsbengel“.

Ich habe lieber so einen, der offen sagt: „Was soll der Quatsch?“, als einen mit „Ja, gut“, und dann geht's hintenrum.

Sie haben selbst gesagt, es fehle an Leidenschaft.

Die vermisse ich wirklich! Für mich war jedes Länderspiel etwas Besonderes, einfach so. Heute bekommen die Jungs 100 Mark Tagegeld, und drei Tage später geht es im Europacup um 30.000 Mark Prämie. Die kann ich beleidigen, auswechseln, bestrafen – die letzten zehn Prozent rufen die nicht ab. Wir hatten ja keine Qualifikation als Titelverteidiger, zwei Jahre nur Freundschaftsspiele, das wissen die Spieler genau. Länderspiel in Tunesien, da sagt keiner: Wunderbar, fahren wir mal nach Tunesien.

Gefällt Ihnen deshalb Klinsmann so: rennen, rackern, immer in die vollen.

Ach Jürgen, der ist ein Typ. Der hat schon als Junior gesagt: Trainer, ich kann mittags nicht ruhen und lesen, ich geh' raus und bereite mich vor. Dann bin ich ihm mal hinterhergegangen, ich dachte: Was macht der denn da? Und da saß er irgendwo, ganz alleine, und hat sich geistig auf das Spiel vorbereitet. Seitdem hat er alle Freiheiten, die er will.

Das bekommt nicht allen?

Man lernt ja auf der Hochschule, von den Psychologen, wie wichtig das ist: mitgestalten lassen, mitdenken lassen. Also hab ich in Tbilissi gesagt: Drei Uhr, Stadtrundfahrt, damit wir etwas über Land und Leute mitkriegen. Wissen Sie, wer im Bus saß? Der Fahrer und der Masseur. Die Spieler waren auf den Zimmern beim Zocken – von wegen freiwillige Basis. Da habe ich gedacht, mit euch, Freunde, nur noch Pflichtveranstaltungen. Manche Spieler wissen ja nicht einmal, wie man sich in einem Museum zu verhalten hat. Man muß sie zu ihrem Glück zwingen.

Fußballspieler müssen gehütet werden ...

... wie ein Sack Flöhe.

Verfolgt Sie der Fußball im Schlaf, träumen Sie vom ungelösten Verteidigerproblem?

Das wäre ja schlimm! Das könnte ich ja meiner Familie nicht zumuten. Nein, sobald ich eine Stunde zu Hause bin, dann gehe ich raus mit dem Sohnemann und dem Hund, ein bißchen spazieren, und das Thema ist erledigt.

Was ging in Ihnen vor, als vergangenes Jahr die Brasilianer Ihr Team taumelig gespielt haben. 0:3 stand's bei Halbzeit ...

... und am Ende mußten die Journalisten ihre Berichte komplett umschreiben. Beim dritten Tor habe ich geklatscht, so toll war das herausgespielt. Die Brasilianer waren im Rausch, die haben uns vorgeführt, da bin ich zu sehr Fußballer, um nicht begeistert zu sein.

Schwer zu glauben.

Ihr Problem! Ich habe dann in der Halbzeit gesagt: Es tut sich was, die nehmen uns nicht mehr ernst, ich kenne die Brasilianer. Jetzt zieht ihr neue Trikots an und geht raus. Am Ende stand's 3:3, und der Gegner war fertig.

So einfach ist das also? Der Wiener Trainer Uridil hatte für seine Mannschaft auch nur einen Satz: „Burschn, wir san elf, die anderen san elf, wenns gwinnts, gibts an Sekt.“

Vor dem Anpfiff sage ich nur noch: So, ich will jetzt einen schönen Abend haben und ihr doch auch. Das Gespräch führten:

Norbert Thomma &

Herr Thömmes