: Öffentlichkeit und Beharrung
65 und immer noch im Ring: Jürgen Habermas, Kommunikationsphilosoph und Historikerstreiter, hat morgen Geburtstag ■ Von Jörg Lau
Wer erst Mitte der Achtziger anfing, ihn zu lesen, fand nicht leicht zu Habermas. Dieser Satz damals über einen einst hochgeschätzten Kollegen machte stutzig: „Seine Botschaft vom immer gleichen Machtzyklus der immer neuen Diskurs- Formationen muß den letzten Funken von Utopie und von Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst ersticken.“
Wie schon die Reizworte „Macht“ und „Diskurs“ verraten, war hier von Michel Foucault die Rede, der damals einen enormen Nachruhm in den deutschen Universitätsseminaren gewann. Studentische Lesezirkel hießen nun „Arbeitskreis Diskursanalyse“ oder so ähnlich; und der neue Jargon des „Diskurses“ erwies sich als äußerst hilfreich, das Vertrauen der studentischen Kultur in sich selbst zu stärken. Im Juni 1984 war Foucault gestorben (in der kommenden Woche jährt sich sein Todestag zum zehnten Mal), und Habermas hatte ihm in der taz einen Nachruf hinterhergeschickt, der bei aller Härte der Kritik am „zynischen Blick“ noch einen überaus respektvollen Ton hatte.
Und nun dieser staatsmännische Aufschwung zur Verteidigung des Selbstvertrauens der „westlichen Kultur“? Hatte Habermas, der Theoretiker der „Öffentlichkeit“, nicht selber gezeigt, wie die westliche Kultur der Moderne ihr Selbstvertrauen in der Auseinandersetzung mit ihren radikalen Kritikern gewonnen hatte? Und nun sollte es ausgerechnet diesem späten Kritiker – dem Habermas vor Jahresfrist noch am Grabe bescheinigt hatte, daß sich „das Selbstverständnis Foucaults als eines Denkers in der Tradition der Aufklärung mit Foucaults unmißverständlicher Kritik an eben dieser Wesensform der Moderne verträgt“ – gelungen sein, dem Abendlande das letzte Lichtlein auszublasen? Wir glaubten kein Wort davon.
Es war jene Zeit, die bald auf den griffigen Namen „Neue Unübersichtlichkeit“ hören sollte. Das leuchtete ein. Heute scheint die Habermassche Prägung seltsam verfrüht. Nur vier Jahre später brach eine neue Ära an, der dieser Titel viel besser steht als den retrospektiv recht behaglichen Achtzigern.
Im Jahr 1986 fand Habermas Gegner, die seine Polemik mehr verdienten als Foucault, der Konkurrent um die Gunst der Erstsemester. In der Kontroverse mit einer Gruppe von Historikern – vor allem mit Ernst Nolte –, die bald unter dem Namen „Historikerstreit“ geführt wurde, ging es endlich um einen wirklichen Einsatz. Nicht das ganze Abendland stand auf dem Spiel, sondern der Stellenwert des Holocaust im deutschen Bewußtsein. Habermas – keineswegs blinder Gegner jeglicher „Historisierung“ des Nationalsozialismus – intervenierte heftig gegen Noltes Versuche, die Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen als eine „asiatische Tat“ darzustellen, die man als Antwort auf bolschewistische Vernichtungsdrohungen verstehen müsse. Die Singularität des Holocaust schnurrte bei Nolte zu den Innovationen des „technischen Vorgangs der Vergasung“ zusammen. Der Archipel Gulag sei „ursprünglicher“ als Auschwitz.
Heute will selbst die FAZ, die Noltes Geschichtsrevisionismus seinerzeit lancierte, mit den abenteuerlichen Exkulpationsversuchen des einst hochverehrten „Geschichtsdenkers“ nichts mehr zu tun haben. Dem Opfer-Arithmetiker Nolte, der nicht davor zurückschreckte, in einer Talkshow die „Verhältnismäßigkeit“ der Massenmorde des „Weltbürgerkriegs“ genau zu beziffern, hält man jetzt in seinem weiland Hausblatt „menschliche Kälte“ vor. Es mag auch späte Einsicht in eine publizistische Pleite mit herben Verlusten intellektuellen Kredits dabei eine Rolle spielen. Wie auch immer, man reichte Nolte endlich an die Junge Freiheit weiter und an die dankbaren profilneurotischen Kollegen von der Woche, die ihn kürzlich das neue Italien als „Avantgarde Europas“ preisen ließen.
Den Historikerstreit hat Jürgen Habermas, wie Peter Glotz schon vor fünf Jahren feststellte, „vom Zaun gebrochen und gewonnen“. Seine Streitschriften werden noch als Musterstücke eines engagierten Intellektuellen gelesen werden, wenn die geschichtspolitischen Handreichungen seiner Gegner längst dort angekommen sind, wo man sie wirklich brauchen kann: in den schmuddeligen Besteckkästen der Jungs von der „Neuen Rechten“, die sich jetzt daranmachen, an der schon leicht angegangenen Leiche der alten Bundesrepublik herumzudoktern. Sie üben noch: Heute fummeln sie zum Beispiel an der Adenauerschen „Westbindung“ herum, einem zugegebenermaßen ziemlich toten Thema. Aber sie haben Ambitionen. Wenn sie erst gelernt haben, wie man die Schnitte setzen muß, soll später der neue political body, das in seine „alte geopolitische Lage zurückgekehrte Deutschland“, unter ihren Messern genesen.
Nach den vorliegenden Arbeitskladden zu urteilen, könnte allerdings ein rechtes Monster dabei herauskommen: „Wenn sich die Nation Rechenschaft ablegte über ihren Lebenslauf in diesem Jahrhundert“, schreibt der neurechte Pamphletist Karlheinz Weißmann im Herbst letzten Jahres im Nachwort seines „Rückrufs in die Geschichte“, „dann würde deutlich, daß sie – und sie allein – jede Form politischer Verfassung durchlaufen hat, die die Neuzeit bereithält: die moderne Variante der traditionellen Monarchie, die absolute Diktatur von rechts, die absolute Diktatur von links und die parlamentarische Demokratie. Es müßte eigentlich denkbar sein, aus dieser besonderen Erfahrung Konsequenzen zu ziehen und eine politische Ordnung zu schaffen, die den Anforderungen des kommenden Jahrhunderts genügt.“ Womit nicht viel mehr, aber eben auch nicht weniger gesagt ist, als daß die „parlamentarische Demokratie“ den Anforderungen wohl nicht genügt.
Wenn die Parlamentarismuskritik Carl Schmitts ein solches Revival feiert, ist es gut zu wissen, daß Jürgen Habermas noch im Ring ist, um den Handschuh aufzunehmen. Unter den politischen Philosophen ist er der Anti-Schmitt. Sein Hauptwerk, die 1981 erschienene „Theorie des kommunikativen Handelns“, ist eine Kritik der Verständigungsverhältnisse. Folgte Schmitt seiner Obsession, die Souveränität, die politische Entscheidungsmacht über Freund und Feind, als Kern des Politischen zu begründen, so setzt Habermas umgekehrt alles daran, die Souveränität „kommunikativ zu verflüssigen“, wie es in einem Aufsatz von 1989 heißt: sie den „öffentlichen Diskursen“ der „autonomen Öffentlichkeiten“ zu überantworten.
Das mußte unsereinem natürlich gefallen; Habermas bietet gewissermaßen eine Sozialphilosophie des Journalismus, der sich gerne selber „kritisch“ nennt: „Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung. Sie wirkt auf die Prämissen der Urteils- und Entscheidungsprozesse des politischen Systems ohne Eroberungsabsicht ein, um in der einzigen Sprache, die die belagerte Festung versteht, ihre Imperative zur Geltung zu bringen: sie bewirtschaftet den Pool von Gründen, mit denen die administrative Macht zwar instrumentell umgehen kann, ohne sie aber, rechtsförmig verfaßt, wie sie ist, ignorieren zu können.“ Die Sätze stammen aus dem Jahr 1989, als die Träume von der „Zivilgesellschaft“ noch üppig blühten. Sie passen auch nicht schlecht zum laufenden Wahljahr und – ach ja – zur Sozialdemokratie: die nimmt sich heute, um im Bild zu bleiben, wie eine Festung aus, der eine kleine Umzingelung mal wieder guttun würde. Es mag nicht angenehm sein, eingekesselt zu werden, aber gibt es etwas Trostloseres als eine Festung, die den Belagerern nicht einmal mehr der Mühe wert scheint, ihr Handwerkszeug aufzunehmen?
Keiner hat so stark wie Jürgen Habermas die intellektuelle Westbindung der Bundesrepublik forciert. Daß die Rezeption der französischen und angelsächsischen Sozial- und später immer mehr auch der Rechtsphilosophie in seinem Werk immer Hand in Hand ging mit der Kritik der Machtpolitik der USA und der Nato, macht seine große Glaubwürdigkeit aus. „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens“, hat Habermas im Kampf gegen Nolte e tutti quanti geschrieben, „ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit.“ Sein Anteil daran ist kaum zu überschätzen. Es ist daher kein Wunder, daß Jürgen Habermas in den USA so viele Leser hat wie kein anderer deutscher Philosoph der Gegenwart. Nach seiner anstehenden Emeritierung will er dort lehren.
Habermas ist mittlerweile auch als Re-Import aus den USA im Handel. Einer von Habermas' amerikanischen Lesern, der Philosoph Richard Rorty, hat in seinem Buch „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ eine Lektüre vorgeschlagen, die es erlaubt, Habermas und Foucault zwar nicht zu versöhnen, sie aber doch zusammenzubringen. Es sei für einen politischen Philosophen weder ratsam, wie Foucault Ironiker, aber kein Liberaler (im amerikanischen Sinne von liberal, also bei uns etwa: Sozialdemokrat) sein zu wollen noch wie Habermas Liberaler, aber kein Ironiker.
So lange die Fronten aber noch so verlaufen, wie Rorty sie beschreibt, werden wir bei der künftigen Habermas-Lektüre weiterhin Foucault griffbereit halten.
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