■ Wolf Biermann verteidigt Marcel Reich-Ranicki: Gott schütze ihn vor seinen Freunden!
„Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen ihrer Minderjährigkeit oder ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, die diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt.“ Es scheint, als habe diese Bestimmung des Bürgerlichen Gesetzbuches Wolf Biermann bei der Abfassung seiner Polemik im jüngsten Spiegel zugunsten Marcel Reich-Ranickis als alleinige Richtschnur gedient. Die Umstandslosigkeit, mit der Biermann den Vater – Walter Jens – für die angeblichen und wirklichen publizistischen Untaten des immerhin vierzigjährigen Sohnes – Tilman Jens – zur Verantwortung zieht, kann man auch mit einem einzigen Begriff ausdrücken: Sippenhaft.
Biermann mutet seinen Lesern allen Ernstes ein Erklärungsmuster zu, nach dem der Sohn, zu feige, am Vater die ödipalen Gelüste auszuleben, „den übermächtigen Freund-Feind des Vaters [gemeint ist Marcel Reich-Ranicki] mit einer denunziatorischen Fernsehdokumention über [gemeint ist: auf] den Schädel schlägt“. Und der Vater, so Biermann, schweigt auch noch dazu, statt sich zu seiner Verantwortlichkeit als Über-Ich zu bekennen! Deshalb ist es nur recht und billig, Jens senior zum eigentlichen Urheber des Angriffs auf Reich-Ranicki zu machen. Dem Spiegel ist mit dem Abdruck dieses Biermann-Essays wirklich eine Pionier-Untat gelungen! Wozu noch argumentieren, wenn jederzeit eine griffige Erklärung – jeder hat schließlich einen Vater – parat liegt.
Selten hat eine Apologie dem Angeklagten so wenig genutzt. Wolf Biermann setzt sich souverän über Sachverhalte hinweg, die, sollten sie zutreffen, seinen Freund schwer belasten würden. Es ist schon keine Kleinigkeit, in der polnischen Abwehr eine Unterabteilung geleitet zu haben. Biermanns Hinweis, auch Czeslaw Milosz sei in der Nachkriegszeit Diplomat und folglich zur Kollaboration mit dem „Dienst“ verpflichtet gewesen, ist überhaupt nicht stichhaltig. Milosz war eben kein Sicherheitsoffizier. Während aber die Geheimdiensttätigkeit eines polnisch-jüdischen Intellektuellen, dem die Sowjetarmee das Leben rettete, auch für uns verständlich ist, würde das auf die Beteiligung an Mordkomplotten nicht zutreffen. Biermanns Aufgabe wäre es gewesen, die Verleumdung zu brandmarken, mit Hilfe deren Reich-Ranicki in die Nähe derer gerückt wird, die den General Tatar aus dem Londoner Exil zurück nach Polen lockten, um ihm anschließend den (Schau-)Prozeß zu machen. Schließlich müssen diejenigen, die so etwas insinuieren, stichhaltige Beweise liefern. Aber Biermann gefällt sich lediglich in der Rhetorik des „Mögen andere dies und das sagen, ich bleibe dabei ...“.
Es geht nicht darum, Reich-Ranicki gegenüber dem Vorwurf zu verteidigen, er sei zu lange Kommunist gewesen, habe zu lange den ästhetischen Theorien Georg Lukács' angehangen und so weiter. Mit solchen Anwürfen kommt der „Angeschuldigte“ selbst ganz gut zurecht. Statt seine eigene Vita möglichst vorteilhaft zu präsentieren, hätte Biermann gut daran getan, Reich-Ranicki dort beizustehen, wo er Unterstützung wirklich nötig hat. Christian Semler
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