piwik no script img

Am 1. Juli übergeben die USA das „Berlin Document Center“ an das Bundesarchiv. Die weltweit größte Sammlung von Nazidokumenten wird dann von Deutschen verwaltet. In den USA sieht man das mit Sorge: Wie gehen die neuen alten Besitzer mit dem NS-Erbe um? So ganz traut man ihnen nicht: Ein Top-US-Diplomat kommt zum Kontrollieren. Von Anita Kugler

Die Rückgabe der Vergangenheit

Seit einigen Wochen darf David G. Marwell, der freundliche Direktor des „Berlin Document Center“ (BDC) nicht mehr mit der Presse reden. Von einem Maulkorberlaß könne „natürlich nicht die Rede sein“, beteuert seine vorgesetzte Behörde, die Berliner Außenstelle der US-Botschaft: Marwell sei „nur viel zu sehr beschäftigt“.

Stimmt. Denn unter der Leitung des 42jährigen Historikers geht dieser Tage eine Epoche zu Ende. Fast fünfzig Jahre stand das BDC unter der Kuratel der US-Amerikaner, ab 1. Juli 1994 gehört den Deutschen das wichtigste und umfangreichste Nazi-Archiv der Welt. Die Übergabe „ist ein Meilenstein in der Wiederherstellung deutscher Souveränität“, kommentierte die Washington Post.

75 Millionen Dokumentenblätter erbt die Bundesregierung, alles Originale, die die US-Army nach Kriegsende in Deutschland zusammensammelte. Darunter sind die Daten von 10,7 Millionen NSDAP-Parteimitgliedern, über 61.000 SS-Führer-Akten, die Personalunterlagen von 230.000 SS- Angehörigen, einschließlich ihrer Ariernachweise bis ins 18. Jahrhundert, die Unterlagen des Rassen- und Siedlungsamtes SS, die Akten von Reichskulturkammer, Reichsärztebund, NS-Lehrerbund und NS-Frauenschaft, die Anträge des Rückwandereramtes und der Einwandererzentrale Litzmannstadt, eine immens große Fotosammlung und vieles mehr.

Wer immer im Dritten Reich was war, die Wahrheit ist im BDC zu entschlüsseln. Amon Göth, der sadistische Kommandant des polnischen Konzentrationslagers in Plaszow hatte die Parteinummer 510.964, sein Gegenspieler Oskar Schindler die Nummer 6.421.477. Und der SS-Führer Erich Priebke, der derzeit in Argentinien auf seine Auslieferung nach Italien wartet, um sich dort für seine Beteiligung an der Erschießung von 335 Italienern im März 1944 in den ardeatinischen Höhlen verantworten zu müssen, trägt die SS-Nummer 20.305. Und über jeden von ihnen gibt es lange Dossiers. Würde man all die NS-Dokumente aneinanderlegen, eine Erdumrundung würde nicht reichen. – Obwohl die großen Kriegsverbrecherprozesse vorbei sind, beantwortet das BDC noch immer 40.000 Anfragen pro Jahr, die meisten kommen von deutschen Behörden wegen Renten und Staatsangehörigkeitsfragen. Sehr bewegend, berichtete Marwell im letzten Jahr der taz, seien aber auch die vielen Anfragen von Deutschen, die wissen wollten, wer ihre Eltern wirklich waren.

Großes Mißtrauen gegen die ehemaligen Täter

Das BDC wird, so wurde es in einem Staatsvertrag zwischen Washington und Bonn im vergangenen Oktober paraphiert, zu einer Außenstelle des Bundesarchivs in Koblenz. Ab 1. Juli trägt das hochsicherheitstraktmäßig bewachte Archiv in der gemütlichen Adresse „Wasserkäfersteig“ den Namen „Berliner Dokumentenzentrale“. Abgekürzt BDZ. Bis zu diesem Datum – und deshalb hat Marwell alle Hände voll zu tun – muß das „aufwendigste Verfilmungsprojekt aller Zeiten“ (The Independent) beendet sein. Denn als Gegenleistung für die Orginale erhalten die National Archives in Washington sämtliche Dokumente auf Mikrofilm, insgesamt 38.000 Filmrollen. Klick, klick macht es deshalb seit Jahren im BDC, 100 mal in der Minute, 50.000 mal am Tag. Die Negative sind computerlesbar und miteinander vernetzt.

Die Übergabe der Akten an die Deutschen, 1953 vom amerikanischen Kongreß erstmals angedacht, 1967 zwischen Bonn und Washington diskutiert und 1989 mit einer einstimmigen Entschließung des Bundestages gefordert, stößt in den USA auf große Empfindlichkeiten. Ein eher pragmatischer Einwand ist, daß die Mikrofilme erst in circa zwei Jahren im Washingtoner National Archiv zu benutzen sein werden. Fundamentalere Befürchtungen verbinden sich jedoch damit, daß die Millionen von Nazi-Dokumenten nun überhaupt in deutsche Hände gelangen.

Und wer, so wird gefragt, kontrolliert in Zukunft, daß die ehemaligen Täter keine Unterlagen vernichten?! Am wenigsten vertrauen jüdische Organisationen der deutschen Souveränität. „Sie sollten die Kopien bekommen, wir aber die Originale“, schrieb der Exekutiv-Direktor des Jüdischen Weltkongresses, Elan Steinberg, 1990 an George Bush und 1993 an Bill Clinton. „Denn diese Dokumente“, so Steinberg, „wurden auf denkbar teuerste Weise bezahlt, mit dem Blut junger amerikanischer und anderer alliierter Soldaten, die die Nazis bekämpften, um die Welt zu befreien. Die Akten gehören deshalb uns.“ Und als er dann noch kürzlich in einem Artikel im New Yorker mit dem Satz zitiert wurde: „Der Eifer der Deutschen, die Akten wiederzubekommen, hat eindeutig damit zu tun, daß man den Holocaust vergessen will“, war die Aufregung groß.

Und Öl ins Feuer goß ausgerechnet der Nachfolger von David Marwell, der Deutsche Dieter Krüger (40). Denn der derzeitige Leiter des östlichen Pendants des BDC, dem Nazi-Archiv der Stasi in Dahlwitz-Hoppegarten, behauptete ebenfalls im New Yorker , daß er über eine Neueinteilung der Bestände nachdenke, einige sogar regionalen Archiven überlassen will. Im übrigen werde er auf die strikte Einhaltung der Datenschutzregelungen des deutschen Archivgesetzes achten. „Wenn jemand nur daran interessiert ist, herauszufinden, ob ein Politiker Parteimitglied war, dann dient dies nicht der historischen Forschung“, sagte er. Im Klartext: Der Benutzerantrag kann abgelehnt werden. Diese Reglementierung (die für Stasi-Unterlagen nie galt) ist aber ein Punkt, der amerikanische Forscher schon lange ärgert. Denn während in den USA die Privatsphäre sofort nach dem Tod erlischt, gilt in Deutschland (wieder mit Ausnahme der MfS-Dokumente) eine 30jährige Schutzfrist. Wer Dokumente vorher sehen will, braucht das Einverständnis der Angehörigen. Und die wollen nicht immer. Muskelmann Arnold Schwarzenegger etwa verweigerte sein Einverständnis, als Forscher die Akten seines SS-Vaters einsehen wollten, ebenso wie vor etwa zwei Jahren die beiden Politiker- Brüder Bernhard (CDU) und Hans-Jochen Vogel (SPD). Auch sie wollten partout nicht, daß ein Forscher die Akten ihres Vaters sieht.

Die Sorge, daß Deutschland mit dem Archivgesetz die Nazivergangenheit entsorgen will, war jedenfalls in den USA so groß, daß der republikanische Kongreßabgeordnete und Auschwitz-Überlebende Tom Lantos Ende April sogar ein spezielles Hearing zum BDC initiierte. Es endete mit einem Appell an die Regierung, noch einmal nachzuverhandeln.

Intime Angelegenheiten bleiben geheim

Dazu ist es zu spät. Dennoch sind deutsche und US-amerikanische Stellen hoch sensibilisiert. Bundeskanzler Kohl versicherte dem eigens wegen dieser Angelegenheit im Mai nach Bonn gereisten Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Singer, daß er sich keine Sorgen zu machen brauche. Dieter Krüger, der designierte Chef, darf keine Interviews mehr geben, und für David Marwell spricht heute der politische Berater der US-Botschaft in Bonn, Dan Hamilton. Die Transaktion von BDC zu BDZ ist zur Chefsache geworden.

„Wir denken gar nicht daran, die Bestände im BDC auseinanderzureißen oder zu verändern“, sagt der Vizedirektor des Bundesarchivs und Leiter der Außenstelle in Potsdam, Siegfried Büttner. Der Vorwurf, in Deutschland könnten Akten vernichtet werden, trifft ihn sehr. „Unsere Aufgabe ist es, die Dokumente zu bewahren und nicht zu zerstören.“ Weil der Gebäudekomplex in Zehlendorf ab 1. Juli der Telekom gehöre – im Dritten Reich befand sich hier die Abhörzentrale der Gestapo –, bereite man allerdings einen Umzug in die ehemaligen amerikanischen Kasernen nach Berlin-Lichterfelde vor. Dorthin sollen auch die früher von der Stasi gehüteten Naziakten aus Dahlwitz-Hoppegarten, noch in Koblenz liegende Unterlagen der Einwanderzentralstelle und der Reichskulturkammer sowie Bestände aus Potsdam.

Büttner ist nicht der Ansicht, daß das deutsche Archivgesetz den Zugang zu den Akten über die Maßen erschwere. Die Sperrfrist von 30 Jahren werde für wissenschaftliche Vorhaben, journalistische Recherchen oder für Privatpersonen, die Auskunft über ihre Eltern wünschen, verkürzt. Der Datenschutz solle nicht die Täter schützen, sondern ihre Familien. Strikt geheim sollen, wie bisher auch schon gehandhabt, „persönliche, intime Angelegenheiten“ sein. Als Beispiel nennt Büttner Gesundheitszeugnisse oder Unterlagen über Adoptionen nach Zwangssterilisationen.

Er räumt allerdings ein, daß bei der Auslegung des Archivgesetzes, also bei der Bewertung, was wissenschaftlich ist und was nicht, die Archivare einen „Ermessensspielraum“ haben. Das Bundesarchivgesetz gelte für Inländer, die das BDC benutzen wollen, schon seit 1991. Dennoch wisse er nur von einem einzigen Fall, in dem seine Behörde einen Nachforschungsantrag ablehnte.

Götz Aly, Historiker und Dauerbenutzer des BDC, hält die Debatte in den USA für übertrieben. „Die Sorge der Amerikaner ist albern, das deutsche Archivgesetz ist eines der liberalsten der Welt.“ Das eigentliche Problem seien vielmehr die Benutzungsbedingungen im zukünftigen BDZ. „Wenn jetzt unter deutscher Leitung – wie in Dahlwitz-Hoppegarten praktiziert – nur noch 10 Namen pro Jahr vom Archivpersonal gecheckt werden, dann kommt das einer Benutzungsbeschränkung gleich.“ Nicht die Eigentumsfrage sei entscheidend, „sondern wer Direktor ist“.

Auch wenn die Vereinigten Staaten in Zukunft nicht mehr Besitzer des BDC sind, ganz ohne Einfluß bleiben sie dennoch nicht. Ein von der US-Regierung bestimmter „Vertrauensbeauftragter“, soll auch künftig ein Auge auf das BDC halten. Ohne seine Zustimmung dürfen keinerlei Bestände aus dem BDC entfernt werden. „Der Posten ist auf der höchsten politischen Ebene angesiedelt“, sagt Dan Hamilton von der Bonner US-Botschaft. Der neue Mann heißt Jock Covey, am 1. Juli wird er in Berlin Wohnsitz nehmen. Nach dem US-Botschafter in Bonn wird er der zweithöchste Repräsentant der USA in Deutschland sein. „Das zeigt, wie ernst es Washington mit dem BDC ist.“ Vertrauen ist eben gut, aber Kontrolle noch besser.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen