: Kohl kam, sah und blühte
Vor einem begeisterten Publikum in Halle attackiert der Kanzler die Sozialdemokraten und beschwört sein Engagement für die Einheit / Ordner und Polizei unterdrücken Protest ■ Aus Halle Wolfgang Gast
„Der Kanzler kommt“ ist flächendeckend plakatiert, und mit dem Pfälzer kommt die Polizei. Am Montagabend ist der Obere Markt in der Innenstadt von Halle zu einer behelfsmäßigen Festung umgebaut. Absperrgitter wurden vor dem Rathaus aufgestellt, als gelte es, vor des Kanzlers Rednerpult den Strafraum abzustecken. Rund 500 uniformierte Beamte kontrollieren Zugangswege und Nebenstraßen, Videokameras wachen über das Geschehen, und vor der Bühne patroulliert jene Spezies betont unauffälliger junger Männer, die alle einen elektronischen Knopf im Ohr tragen.
Zehntausend werden es wohl sein, die gekommen sind, um den Propheten der blühenden Landschaften zu bewundern und zu feiern. Nur einige Transparente, „Ei, Ei, Ei, Herr Kohl“ etwa, hochgehalten hinter den Absperrgittern im Block der Protestierer, erinnern daran, daß der Kanzler vor rund drei Jahren noch ganz anders empfangen wurde. Damals, am 10. Mai 1991, hatte es Eierwürfe in Richtung Kohl gehagelt. Damals stürmte der Kanzler in Richtung Publikum, um die Frischei-Attentäter höchtselbst zur Rechenschaft zu ziehen. Heute ist es eher das sprichwörtliche Bad in der Menge. Freundliche Worte begleiten den CDU-Koloß, vereinzelte Grüppchen skandieren „Helmut, Helmut“, alte Männer haben Tränen in den Augen. Die Karawane der Christdemokraten hat das Podium erreicht. Noch einmal intoniert das Jugendblasorchester Hettstedt volkstümliche Weisen. Dann tritt Christoph Bergner, Spitzenkandidat der CDU für die Landtagswahl am Sonntag, ans Pult. Der Kanzler wird's schon machen, muß er sich denken. Kurz und bündig verzichtet er auf eine eigene Rede. Artig dankt er dem Kanzler, weil dieser erst die deutsche Einheit möglich machte. Er freut sich „als Ministerpräsident, aber mehr noch als Bürger Halles, einen Freund unseres Landes begrüßen zu können“.
Der so gelobte Freund ist angetreten, den Sozialdemokraten die schöne Regie zu verderben, die sich diese rund um ihren heutigen Sonderparteitag in Halle ausgedacht haben. In den Köpfen der Hallenser sollen Worte des Kanzlers noch nachhallen, wenn die Sozis sich treffen, um ihren Kanzlerkandidaten offiziell zu küren. Vorher fertigt er noch schnell und routiniert die mehreren hundert Störenfriede ab. „Nachhut der sozialistischen Völkerwanderung“ donnert es über den Marktplatz. Kohl hält den Pfeifenden und Johlenden das Rosa-Luxenburg-Zitat von der Freiheit der Andersdenkenden entgegen. Der Kanzler ist der Meinung, daß sich die überwiegend Jugendlichen eigentlich bei ihm bedanken müßten für das Privileg, ihn auspfeifen zu dürfen. Die so Gescholtenen revanchieren sich mit zwei zu kurz geworfenen Eiern. „Hau ab!“ rufen sie, dazwischen wird auch einmal „West- Sau“ gebrüllt. Ordner und Polizisten greifen ein: Gerangel, einige vorläufige Festnahmen.
Dann geht der Kanzler gegen die Sozis an: Die Deutsche Einheit – er hat sie herbeigeführt und keinesfalls die SPD. Ratschläge von führenden Sozialdemokraten brauche er daher nicht. Die waren es schließlich, die „die Idee der deutschen Einheit längst verraten und aufgegeben hatten“. Wer wie Kohl gerne triumphiert, der kann auch kleine Fehler ohne Risiko auf Imageverlust eingestehen. Ja, er habe etwas zu früh von den „blühenden Landschaften“ im Osten Deutschlands gesprochen. Schuld daran, belehrt er die Hallenser, ist der Zusammenbruch der Sowjetunion. Mit Gorbatschow habe er seinerzeit ein Liefervolumen für die neuen Bundesländer von 20 Milliarden vereinbart. Jetzt ist dessen Reich entschwunden, das Handelsvolumen auf fünf Milliarden im Jahr geschrumpft. Wer, bitte, hätte das schon vorhersehen können? „Wenn ich mich um wenige Jahre getäuscht habe, beeindruckt mich das nicht sonders“, gibt der Kanzler zum besten. Die Leute wollen es offenbar so hören, Applaus kommt auf, und wieder Chöre: „Helmut, Helmut“.
Unter Beifall tritt der Kanzler ab, dann ruft Halles Oberbürgermeister Klaus Rauen wie sein Vorredner zur Wahl der eigenen Partei auf. Zum Abschluß der Veranstaltung wird die Melodie des Deutschlandliedes über Lautsprecher eingespielt – die Sozialdemokratie wird sich schwertun, den Auftritt des Kanzlers zu übertrumpfen.
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