: Entschieden unentschieden
Das SO 36 in der Kreuzberger Oranienstraße ist derzeit die Fußballhochburg der autonomen WM-Szene / Jubel für Rudi, Pfiffe für die Nationalhymne ■ Von Uwe Rada
Trotz vielfacher Gemeinsamkeiten unterscheiden sich Fußball und Roulette in einem doch erheblich: Wenn die Kugel erstmal rollt, ist alles möglich. Da nutzt in Brandenburg ein Häftling die Gunst der Fußballstunde, um sich heimlich zu verdrücken, und im SO 36, der autonomen Vergnügungsstätte in der Kreuzberger Oranienstraße, werden „unsere“ Kicker zum Ausgleich mal mit Jubel bedacht. Politisch korrekt freilich, aber nicht ohne Vorliebe. Doch nicht der deutschen Mannschaft galt die Sympathie der Linken, sondern Einzelkämpfern wie Jürgen Klinsmann und vor allem Rudi Völler.
Vor dem Anpfiff des vorgestrigen Länderstreits gegen Spanien galt es allerdings gleich zwei Bewährungsproben zu überstehen: Al Bundy und die deutsche Nationalhymne. Während die schrecklich nette Familie als Vorprogramm vom Szenepublikum noch mit Gelassenheit aufgenommen wurde, gab es bei „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ein gellendes Pfeifkonzert, bis schließlich bei „des Glückes Unterpfand“ die Regie der Großbildleinwand ein Einsehen hatte: Die Kreuzberger Szene wurde vom Werke Hoffmann von Fallerslebens befreit.
Dann ging's los. Goicoechea flankte, und Illgner, offenbar noch immer in Gedanken bei Bianca, griff ins Leere. Doch statt mit Andy Köpke einen der letzten Individualisten des deutschen Fußballs zu fordern und mit ihm gleich den Kopf des Bundestrainers, sann das Publikum auf Ausgleich. Als kurz darauf Möller den Kopf hinhielt, das Tor aber dennoch verfehlte, als es darob das Volk aus den Sesseln riß und die vertane Chance zum Unentschieden mit allerlei Vokalem entschieden kommentiert wurde, als sich nicht wenige ob derartigem Unvermögen die Hand auf die Stirn hieben, war entschieden, daß auch im „Esso“ nicht jenem deutschen Unvermögen die Sympathie galt, sondern seiner baldigen Überwindung.
Politik jedenfalls hatte an diesem Abend im SO 36 nichts zu suchen. Auch nicht in der Halbzeitpause. Der heute-Sendung wurde kurzerhand der Ton abgedreht, die sprachlose Berichterstattung über den Berliner Koalitionskrach bestenfalls mit einem Lächeln quittiert. Jubel kam erst wieder auf, als mit dem Ausscheiden Steffi Grafs in Wimbledon die erste gute Nachricht des Abends vermeldet wurde. „Unseren Jungs“ freilich sollte ein solches Schicksal nicht widerfahren. Entsprechend wurde der Ausgleich bejubelt. Klinsi war der Held des Abends und der eingewechselte Rudi Völler sowieso. Selbst Matthäus, beim Absingen der Nationalhymne noch mit Schmähworten bedacht, konnte zum Schluß ohne einen Pfiff mit seinem Konterfei die Leinwand füllen.
Da kamen Befürchtungen auf, daß, wie zuletzt im Tempodrom beim 86er Endspiel gegen Argentinien, das Tor das Bewußtsein bestimmen könne. Ob es nach einem eventuellen Siegtreffer denn Deutschland-Rufe im Publikum gegeben hätte, fragte ein sichtlich irritierter Schwabe seinen Nachbarn. Der zuckte unentschieden mit den Schultern und erinnerte statt dessen an Zeiten, in denen die politische Korrektheit noch sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten hatte. „Da hieß die DDR noch DDR und die deutsche Nationalmannschaft BRD-Auswahl.“ Was einst die Linken von den Unentschiedenen unterschied, könnte in zwei Wochen freilich wieder fröhliche Urständ feiern. Dann nämlich zeigt das Kino Babylon im Rahmen seiner Sparwasser-Retrospektive das legendäre Länderspiel Deutschland gegen Deutschland und mit ihm den bisher größten Treffer, den der Sozialismus beim Roulette mit der Lederkugel je erringen konnte.
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