: Ohne Lackschuhe und Zigarre
■ Wie Norwegen Weltmeisterschaft spielt: Trainer Olsen sitzt vor dem Computer
Oslo (taz) – Wer das WM-Finale erreicht, ist abgemacht: Deutschland und Norwegen. Meint jeder fünfte norwegische Fußballfan. Seit sich Norwegens Nationalmannschaft von einer der schlechtesten Europas zu einer der weltbesseren gemausert hat, kennt der Optimismus keine Landesgrenzen mehr. Hat man England, Polen und die Niederlande in der Qualifikation geschlagen, warum dann nicht Weltmeister werden? Ja, warum nicht? Bloß weil das Team von Bösartigen als „Totengräber des Fußballs“ (Aftonbladet, Stockholm) denunziert wird?
Nun ja, das Patentrezept heißt 4-5-1. Torträchtige Situationen können wahrlich nur aus Fehlern der anderen entstehen. Weit entfernt also vom Schönheitspreis, dafür erfolgreich. So gut, daß Kapitän Rune Bratseth vor dem heutigen Spiel gegen den dreifachen Weltmeister prophezeit: „Wir sind besser als Irland und schlagen Italien.“ Dessen Trainer Sacci ist schwer beeindruckt: „Die Gefahr auszuscheiden besteht.“ Trainerkollege Olsen macht ihm Hoffnung: „Gereizte Gegner sind gefährlich.“ Seine pragmatische Botschaft an die eigene Elf: „Nur das Resultat zählt.“ Dazu nötig: physische Fitness und ein perfektes Spiel ohne Ball. Dribbeln verboten. „Drillo“, so genannt seit seiner Zeit als wenig glückreicher Dribbelkünstler: „Für einen Spieler wie mich wäre in meiner Mannschaft kein Platz.“ Individuelle Ballkünstler sind out – es gibt sie auch nicht. „Drillo“ ist Computer-Fan. Vorm Bildschirm hat er den norwegischen Siegeszug zur WM-Teilnahme gebastelt.
Und den ersten Sieg über Mexiko. Videos über die Spielweise der Mexikaner hatten Olsen auf „einen zeitweisen Verzicht auf die Mittelfeldkontrolle“ (Kapitän Rune Bratseth) bewogen. Der Trainer verbringt mehr Zeit an der Tastatur als neben dem Spielfeld. Unlängst hat ihm sein Verband eine neue Ausrüstung spendiert. „Jede Bewegung auf dem Feld wird erfaßt“, erzählt Fußball- Buchhalter Olsen. Seine bisherige Erkenntnis: Ein Spieler führt das runde Leder pro Spiel im Schnitt nur zwei Minuten und 42 Sekunden vor den Schuhen. 87,18 Minuten ist er ohne Ballkontakt. Verständlich, daß es den Trainer interessiert, was ein Spieler in der ball- losen Zeit so treibt. Rune Bratseth gibt das norwegische Erfolgsrezept preis: „Wir werden wie erwachsene Menschen behandelt und an der langen Leine gehalten.“
„Wir trainieren nicht mehr Balltechnik, sondern Spielorganisation“, sagt der Trainer. Auf die systematische Analyse aller Spielzüge hat Egil Olsen den Erfolg gegründet: „Norwegen hat in den zehn Länderspielen im letzten Jahr 25 Tore geschossen. 13 davon entsprangen Standardsituationen. Zehn schnellen Kontern, mit höchstens zwei Pässen. Nur zwei Toren ging ein Ballbesitz von mehr als sechs Sekunden voraus. Primitivfußball, sagen viele. Stimmt. Aber effektiv.“
Viele haben über seine Fußballcomputerologie gelacht. Am lautetesten die englische Presse über den „Kommunisten in Gummistiefeln“. Bis Norwegen die englische Mannschaft aus der Qualifikation geworfen hatte. 41mal hat Norwegens Elf gespielt, seit Olsen 1990 den Trainerposten übernommen hat. Nur achtmal gab's für die verlustgewohnte Mannschaft Niederlagen. Ein populäres Eis am Stiel heißt inzwischen „Drillo“, selbiger macht halbnackt Werbung für Gummistiefel: „Mit Lackschuhen und Zigarre kommt man nicht zur WM.“ Sein gängiges Schuhwerk ist kein PR-Gag, sondern dient dem Rheumageplagten zum Schutz gegen Nässe.
Und zum Schutz gegen gegnerische Mannschaften. Irland? „Unser Spiel baut darauf auf, den Ball im Mittelfeld zu erobern. Aber, im Mittelfeld sind die nie.“ Der heutige Gegner Italien? „Eine gute Mannschaft, aber mit einem Spiel, das uns gut liegt.“ Mexiko? „Mit deren Technik können wir nicht mithalten, es heißt, auf die Fehler zu warten.“ Bekanntermaßen hat Norwegen Hu-Goal (Sanchez) und die Seinen 1:0 bezwungen.
In atemloser Erwartung neuer Heldentaten packen die norwegischen Medien immer neue Episoden aus der Zeit aus, als Norwegen zuletzt einen fußballerischen Paukenschlag setzte: bei der Nazi- Olympiade 1936 in Berlin. Adolf Hitler hatte sich beim Spiel um Bronze zwischen Norwegen und Deutschland eingefunden. Angeblich sein erstes Fußballspiel wollte er gucken. Und einen sicheren Sieg Deutschlands. Es war sein letztes Fußballspiel. Dem Vernehmen nach wutentbrannt verließ er das Olympiastadion vorzeitig, um Norwegen nicht 2:0 gewinnen sehen zu müssen. Reinhard Wolff
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