: Kein Freispruch für Dolgenbrodt
Der Angeklagte im Dolgenbrodt-Prozeß wurde gestern vom Potsdamer Landgericht mangels Beweisen freigesprochen / Der Richter erhob schwere Vorwürfe gegen die Bürger ■ Aus Potsdam Michaela Schießl
Zur Urteilsverkündung hatte sich der Angeklagte Silvio J. verkleidet: Karierte Weste, kariertes Jackett, Schlips und schwarze Lackschuhe zierten den 19jährigen, der am 1. November 1992 das Asylbewerberheim in Dolgenbrodt angezündet haben soll. Der rechtsextreme Jugendliche aus Königs Wusterhausen wußte, für wen er sich schönmacht: Vor dem Saal 116 im Potsdamer Landgericht rangelten zahllose Filmteams um die besten Plätze. „Wie die Aasgeier“, sagte J., und genoß es sichtlich, das gefundene Fressen zu sein.
Keine normale Brandstiftung war es, die die Aufregung verursachte, sondern der Verdacht, daß die Dorfbevölkerung dazu angestiftet und 2.000 Mark bezahlt hat.
Doch die Vernehmung von über 30 Zeugen brachte keine Gewißheit. Weder was die Anstiftung betrifft noch den Täter. Die Kammer sprach Silvio J. in Sachen Brandstiftung frei. Bestraft wird er lediglich wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Verstoßes gegen das Waffengesetz. Der Staatsanwalt Robert Lenz habe zwar brillant plädiert, so Richter Klaus Przybilla, dennoch bleiben erhebliche vernünftige Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten. „Sie sind der einzige, der weiß, was wirklich passiert ist“, sagte er zum Angeklagten, der mit geschlossenen Augen den Freispruch erlebte.
Richter Przybilla beließ es nicht bei der Begründung der Zweifel. Ausführlich ging er auf die Stimmung im Dorf ein und erhob schwere Vorwürfe gegen die Bevölkerung. „Das Klima für die Brandstiftung war da, es fehlte nur noch ein Vollstrecker.“ Er zitierte den Bürger Klaus G., der in einem Interview sagte: „Besser, das Heim ist heute abgebrannt als morgen. Wenn die Regierung nichts gegen die Asylantenschwemme tut, geht's weiter nach rechts.“
„Offenbar müssen wir dankbar sein, daß das Heim noch leer war“, resümierte der Richter. Einen Tag später hätten gegen den Widerstand der 260 Dolgenbrodter und zahlreicher Datschenbesitzer 86 Afrikaner für ein halbes Jahr ins ehemalige Kinderferienheim ziehen sollen.
Zu viele Ungereimtheiten hat der Richter im Laufe des Verfahrens ausgemacht, die mit den anfänglich sehr schludrigen Ermittlungen und mit der Dolgenbrodter Schweigemauer zusammenhängen. „Das Heim sollte bewacht werden, ist es aber nicht. Von 15 Feuerwehrleuten sind nur fünf von der Sirene erwacht, zehn schliefen den Schlaf der Gerechten. Erstaunlich und beneidenswert finde ich den tiefen Schlaf der Dolgenbrodter in der Brandnacht. Und die Tatsache, daß Wilhelm Schulz unbehelligt die Reichskriegsseeflagge gehißt hatte.“
„Wir hatten alle Angst, daß die Asylanten uns was tun“, sagt ebenjener Wilhelm Schulz.
Als nur noch die Ruine kokelte, war die Angst wie weggeblasen. „Die Sache war erledigt“, sagt der Dorfwirt Gerhardt. Warum also noch ein Wort darüber verlieren? Er selbst habe sich ohnehin nie für „die Sache interessiert“. Zwar stand seiner Auffassung nach das Schicksal des Ortes auf dem Spiel auf jener Bürgerversammlung am 23. Oktober 1992, aber er sei nicht einmal im Raum gewesen. Nichts habe er gehört, auch nicht den Zwischenruf, man solle das Teil doch abbrennen. Er will seine Stammgäste nicht kennen, weiß nicht, was in seiner Kneipe geredet wird, kann sich an nichts mehr erinnern. Nicht einmal die 300 Meter entfernte Feuerwehrsirene vermochte ihn in jener Nacht aus dem Schlaf zu schrecken. „Ich hatte ein Bier getrunken, um besser zu schlafen.“
Auch Fischer Armin Schulz, Sohn des Reichskriegsflaggen- Willi und ebenfalls im Verdacht, bezahlt zu haben, braucht Bier zum Schlafen. Sieben oder acht Flaschen habe er getrunken in der Brandnacht. Doch ein biologischer Zufall machte ihn dennoch zum Zeugen: Als er zur Toilette ging, sah er es brennen. Er weckte seinen Vater. „Ich habe meinem Sohn abgeraten, zum Brand zu gehen, sonst sagen ja alle, wir seien die Brandstifter“, beschwor der Vater vor Gericht.
„Wir waren nicht gegen das Heim, nur gegen die Asylanten. Wie gesagt, wir sind nicht ausländerfeindlich“, sagt Vater Schulz. Genausowenig wie der Gastwirt Gebhardt: „Ich habe auch schon Ausländer bedient.“
Richter Przybilla zieht ein anderes Fazit: „Wir mußten die Schuld von J. feststellen, nicht die des Dorfes. Ob angestiftet wurde, muß die Staatsanwaltschaft nun ermitteln. Diese Kammer jedoch ist nicht in der Lage, das Dorf von Mitschuld freizusprechen. Dort wurde das Klima geschaffen für die Brandstiftung.“
So steht Staatsanwalt Lenz wieder Arbeit ins Haus. Von J.s Anwalt, Karsten Beckmann, wird er beschuldigt, von vornherein nur gegen J., nicht aber gegen andere Täter ermittelt zu haben. Przybilla pflichtete indirekt bei: „Nicht einmal ein Brandexperte wurde zu Rate gezogen.“ Nun ist Lenz angewiesen weiterzuforschen. Vielleicht bricht ein Dolgenbrodter doch noch sein Schweigen.
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